Amalias Mutter war eine besondere Frau gewesen. Nicht nur, weil sie die oft ausufernden Arbeitszeiten ihres Mannes stoisch ertragen hatte. Umso bedauerlicher war es, dass sie es jetzt nicht mit ihm miterleben und genießen konnte, dass er als Vorgesetzter einer ganzen Truppe seine festen Bürozeiten hatte, und nicht, wie früher, in den Außendienst geschickt wurde, wann immer die Umstände danach riefen.
Dr. Fried hatte seine Frau geliebt. Bis zum letzten Atemzug, den sie vor nun schon über zehn Jahren in ihrem gemeinsamen Ehebett gemacht hatte. Er hatte den Arzt fortgeschickt, nachdem klar gewesen war, dass dieser nichts mehr für sie tun konnte. Ein alter Schulfreund war der Arzt, von der Anteilnahme selbst ziemlich mitgenommen, aber in seiner medizinischen Zuverlässigkeit unantastbar. Es ergab keinen Sinn, durch die letzten Stunden mussten sie alleine durch, der Ehemann und seine Frau. Die Tochter, die damals an der Schwelle zur jungen Frau stand, hatte er bei einer Tante untergebracht mit dem Versprechen, sie sofort zu holen, wenn es »so weit« war. So weit war es dann irgendwann tief in der Nacht gewesen.
»Sofort!« Herr Johann eilte an Dr. Fried vorbei, als wäre ein bissiger Hund hinter ihm her. Auf einem Tablett balancierte er ein Wiener Schnitzel mit dem obligatorischen Erdäpfel-Vogerl-Salat und ein großes Bier. »Gleich bei Ihnen, Herr Regierungsrat!«
Obwohl sich alles verändert hatte – der Häuserblock, das Kaffeehaus, ja die ganze Stadt –, war neben der Bedienung die Küche im Grabencafé die alte geblieben. Gut wie eh und je. Auch das hatte Dr. Fried die Umstellung und die Akzeptanz der neuen Zeiten erleichtert. Wien war ja längst nicht mehr das, was es noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen war. Dr. Fried hatte die Stadt von Kindesbeinen an als sich stetig wandelnde Baustelle kennengelernt. Er war etwa zwei Jahre alt gewesen, als der inzwischen hochbetagte Kaiser die Stadtmauern hatte schleifen lassen. Baustellen sind Abenteuerplätze für Kinder, zugleich sind sie verbotene Zonen – zu gefährlich, wie einem die Eltern und die Obrigkeit mit der ernsten Miene der Untersagung sagten. Seit damals wuchsen eindrucksvolle Gebäude auf den frei gewordenen Flächen und auch vor dem Herzen der Stadt machte der Umbruch nicht halt. Ja, Dr. Fried hatte sich daran gewöhnt und wehrte sich zugleich innerlich dagegen – eine echte Wiener Seele eben.
»Herr Johann!«, rief er erneut, als der Kellner an ihm vorbeihuschte, diesmal ließ er seine Stimme etwas vorwurfsvoll klingen.
»Herr Regierungsrat wollen zahlen?«, fragte Herr Johann, machte aber keine Anstalten, an Dr. Frieds Tisch zu kommen.
»Jjjjjja«, schickte Dr. Fried seinen Wunsch gedehnt hinter dem schon wieder im Küchenbereich verschwindenden Kellner her.
Die Baustellen seiner Kindheit. Sie waren ihm Reiz und Gefahr zugleich gewesen. Vielleicht hatten sie ihn dazu gebracht, sich für den Beruf des Polizisten zu begeistern? Seine Eltern hatten sich zwar eine Beamtenlaufbahn für ihn vorgestellt, aber vielleicht nicht gerade so eine. Keine mit Kontakt zu kriminellen Elementen. Als Jurist in einem Ministerium, ja, das hätte seinem Vater gefallen. Und Dr. Fried wäre damit wohl eine genaue Kopie von ihm geworden. Aktenpapier auf Aktenpapier stapelnd.
Gut, inzwischen hatten seine Dienstjahre ihn in eine ähnliche Situation gebracht. Schreibtischakteur. Denker hinter den Berichten, die seine Kollegen aus dem Außendienst lieferten und aus denen er jene Schlüsse zog, die ihn die folgenden Schritte der Polizeibeamten anordnen ließen. Die Kriminalpolizei kann nicht ohne das Gehirn im Inneren funktionieren, das hatte er im Laufe der Jahrzehnte gelernt. Nun durfte er eines dieser Gehirne sein.
»Bitte, Herr Regierungsrat!« Herr Johann stand vor ihm und hatte seine große schwarze Geldtasche aufgefaltet. Die Erwartung eines anständigen Trinkgeldes war sein stetiger Begleiter.
»Mittagsmenü … Und dann eben die Jaus’n!«
Dr. Fried ließ seinen Blick über den kleinen Tisch schweifen, den Herr Johann schon bis auf das halb geleerte Glas Wasser frei geräumt hatte.
»Ja, wie immer also«, kommentierte der Kellner und überschlug hinter zuckenden Augenlidern die Summe, die er seinem Gast zu verrechnen hatte.
Dr. Fried legte ein Zwei-Kronen-Stück auf den Tisch. Der kahle Kopf des Kaisers glänzte ihm im Profil entgegen. »Stimmt so«, sagte Dr. Fried klar und deutlich.
»So großzügig heute, Herr Regierungsrat?« Strahlend steckte Herr Johann die Münze in die Geldtasche.
»An manchen Tagen soll man die eigene Freude an seine Mitmenschen weitergeben«, erklärte Dr. Fried und streckte den Rücken durch. »Meine Tochter wird morgen heiraten, das ist ein wahrer Grund zur Freude.«
»Ja, wenn der Herr Schwiegersohn ein anständiger Kerl ist …«, dachte Herr Johann laut nach. »Und wenn er dem Herrn Schwiegerpapa gefällt … Ja, dann schon.«
Herr Johann grinste breit und Dr. Fried grinste genauso zurück. Der Schwiegerpapa war zufrieden.
Langsam stand Dr. Fried auf und legte die Handflächen auf seinen Rücken. Ja, das Alter forderte da und dort bereits ein wenig Tribut. Außendienste waren da definitiv keine gute Idee mehr. Er musste unumwunden zugeben, dass das österreichische Beamtensystem eine ausgeklügelte Angelegenheit war. Besser konnte man es eigentlich nicht ausrichten. »Jetzt muss ich noch rüber zur Stanislauskapelle und nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Man hat ja schließlich seine Vorstellungen. Wenn man schon alles bezahlt …«
Als Brautvater lag es an ihm, die Hochzeit auszurichten. Und es machte ihm nicht das Geringste aus. Zum einen, weil sowieso nur im engsten Kreis geheiratet wurde, zum anderen, weil die Familie des Bräutigams nicht sehr wohlhabend war. Maximilian Beckers Kapital lag in seinem Talent, die Früchte würden er und seine künftige Frau in einigen Jahren ernten.
»Ja, Herr Regierungsrat, so ist das eben: Heiraten kostet a Menge Geld.«
Herr Johann reichte Dr. Fried den Staubmantel und den Hut. Der warf den Mantel über den Arm und nahm den Hut bei der Krempe.
»Dann bis nächste Woche, Herr Johann!«
Der Kellner deutete eine Verneigung an und sah dem Stammgast nach, wie er das Lokal verließ und auf den Graben hinaustrat.
Die Sonne entfaltete jetzt ihre volle Kraft. Die Wettervorhersage war auch für den kommenden Tag ausgezeichnet, das Brautpaar würde in ihrem Schein glänzen, und die Festtafel direkt im Anschluss an die Hochzeitszeremonie könnte im Freien stattfinden, wie Dr. Fried es sich wünschte.
Er setzte den Hut auf und wechselte den Mantel auf den anderen Arm. Recht viele Menschen zogen an ihm vorüber, manche geschäftig, andere flanierend. Wer weiß, dachte sich Dr. Fried, wenige Jahre nur mehr und auch er würde zu den Flanierern zählen, ein Kriminaloberinspektor im Ruhestand mit einer wohlbemessenen Pension. Eigentlich konnte er sich das ganz gut vorstellen.
Es waren sicher nicht die Akten und die dazugehörigen Notizen, die er vermissen würde. Da eher schon das Tüfteln und Knobeln gemeinsam mit dem Novak, der für ihn von einer Schreibkraft zu so etwas wie einer rechten Hand geworden war.
Der Novak war schlau. Er blickte blitzschnell hinter die Kulissen, lüftete die Vorhänge, hinter denen raffinierte Verbrecher ihre Geheimnisse verbargen, zog Türen auf, die niemandem sonst aufgefallen wären. Anton Novak war ein gewiefter Kerl, und wenn er das Glück gehabt hätte, zu studieren, wäre ihm sicher eine beachtliche Karriere beschieden gewesen. So aber war der Novak Dr. Fried zugefallen – oder eher umgekehrt, denn Anton Novak war bereits Schreibkraft bei der Kriminalpolizei gewesen, als Dr. Fried in seine jetzige Abteilung versetzt worden war. Also befördert. Das war nun auch schon an die dreißig Jahre her. Wenn man jemanden dauerhaft an einen Schreibtisch setzte, galt das immer als Beförderung. Wegen des höheren Soldes, der ruhigeren Kugel, die