Network. Ansgar Thiel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ansgar Thiel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839269640
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»Warum hat die SBBK in Berlin mit der Sache zu tun? Die Inhaber der eliminierten Netzidentitäten könnten doch von überall herkommen, aus der ganzen Welt?« Babic stellte sich vor, was für ein Aufwand es wäre, durch die ganze Welt reisen zu müssen, um die realen Personen zu befragen.

      »Das kommt daher, dass die Netzverwaltung zu einem großen Teil automatisch operiert. Auch bei Computern weiß manchmal die linke Hand nicht, was die rechte tut«, erklärte Hensen. »Wenn gravierende Netzverbrechen geschehen, dann meldet die Netzverwaltung diese Verbrechen automatisch an den SBBK-Bezirk, aus dem die realen Identitäten der Opfer kommen.«

      »Obwohl die Identitäten wieder auferstanden sind und deshalb die Auskunft der Namen verweigert wird? Mann, ist das ein komisches System.«

      »Exakt.« Hensen hatte schon lange aufgehört, sich über die Praktiken der Netzverwaltung aufzuregen. »Wir erfahren zwar nicht unbedingt, wer geschädigt wurde, was wir aber auf jeden Fall gemeldet bekommen, ist der Bezirk, aus dem die Leute stammen.«

      »Und die kamen alle aus Berlin und Umgebung?«

      »Genau.«

      Hensen richtete sich auf.

      »Damit unsere Aufgaben klar sind: Zu versuchen, die realen Identitäten über das Strafregister zu ermitteln, ist eine Pflichtaufgabe, die Di Marco morgen bei der Netzverwaltung erledigt. Falls dies ohne Ergebnis bleibt, wirst du das Verhalten der Netzidentitäten analysieren müssen, damit wir ihre Gewohnheiten und Vorlieben kennen und Strategien entwickeln können, um mit ihnen im Netz Kontakt aufzunehmen.«

      Hensen wusste, dass sich das nicht schwierig anhörte. Wer allerdings einmal mit dem Gewirr aus Bürokratie, Filz und Behinderungen zu tun gehabt hatte, das sich vor einem aufbaute, wenn man Virtual-Crime-Fälle untersuchte, dem war klar, dass ein verzwicktes Stück Arbeit auf ihn zukam.

      Hensen stand auf und zog ihre Jacke an. Di Marco seufzte, nahm noch einen Schluck Wein, auf den er sich schon die ganze Woche gefreut hatte, und stand ebenfalls auf. Babic blieb nichts anderes übrig, als es den beiden gleichzutun.

      »Die Rechnung bitte.« Richie Hensen mochte die Lokale der RYUE, der Rich-Young-Urban-Elite, eigentlich gar nicht. Dennoch gefiel ihr, dass man noch so tat, als würde man tatsächlich mit echtem Cash bezahlen. Kein Abfertigen am Ausgang – Chipkarte rein ins Terminal, Drehtür auf – nein: richtiges Bezahlen, mit Kellner, Rechnung, Creditcard abgeben, Trinkgeld angeben und so weiter. Hensen fühlte sich jedes Mal retro wie in den guten alten Zeiten.

      Die ersten Takte des Jailhouse Rock-Refrains erklangen.

      Di Marco zog sein Visiophone aus der Tasche. »Was gibt’s, Burger?« Er wandte sich von der Kameralinse ab und zwinkerte Hensen grinsend zu.

      »Spinner«, murmelte Hensen.

      Je länger das Gespräch, zu dem er allenfalls einen Satz beisteuerte, dauerte, desto angespannter wirkte Di Marco. Schließlich gab er Hensen und Babic ein Zeichen, ihre Jacken anzuziehen.

      »Wir sind gleich da, wir bringen Babic mit.«

      »Was ist los?«, fragte Hensen beim Rauslaufen.

      Di Marco wirkte elektrisiert. »Arthur Mallmann ist ermordet worden.«

      »Ui.« Babic hatte, als sie zum ersten Mal wählen durfte, mit ihrem Vater diskutiert, ob man die EPD überhaupt wählen könne. Ihr Vater fand es super, dass endlich das Bürgergeld realisiert wurde. Sie selbst war ziemlich skeptisch gewesen. Mallmann wurde damals Arbeitsminister und nach einer Legislaturperiode von den Medien zum Vater der europäischen Virtual Work ernannt.

      Kaum bei der Arbeit und schon ein solcher Hochkaräter.

      Rantasten

      Hensen, Babic und Di Marco rasten den Stadtring hinunter in Richtung Alexanderplatz, der seit neun Jahren über zwei Wahrzeichen verfügte: den Fernsehturm und das 250 Meter hohe Ludwig-Erhard-Building, in dem die EPD ihre deutsche Zentrale hatte.

      Um diese Zeit, es war mittlerweile 19 Uhr, waren kaum mehr Fahrzeuge mit Sonderzulassung unterwegs. Hensen schaffte die Strecke in sieben Minuten.

      Nachdem sie das Auto auf einem Sonderparkplatz circa 100 Meter vor dem Ludwig-Erhard-Building abgestellt hatten, ging Di Marco direkt zu einem der letzten Selbstbedienungsautomaten für gedruckte Zeitungen. Als er zurückkam, schwenkte er die neueste Ausgabe der WORD, der großen europäischen Boulevardzeitung.

      »Deine Bettlektüre?«, stichelte Hensen.

      Di Marco ignorierte sie und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Überschrift in roten Lettern auf der unteren Hälfte der ersten Seite.

      »Europäische Automobilindustrie entlässt weitere 12.000 Arbeitnehmer in Deutschland und Frankreich«, las Babic laut.

      »Lies weiter!« Hensen beugte sich über Babics Schulter.

      »Der Vorstandsvorsitzende der Europäischen-Automobil-Produktion-IG, Fred Gimpel, begründet diesen Schritt mit dem härter werdenden Wettbewerb auf dem Weltmarkt. ›Wenn wir die Lohnkosten nicht senken, sind wir am Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig‹, so Gimpel. ›Um Arbeitsplätze zu schaffen brauchen wir aber konkurrenzfähige Unternehmen.«

      Babic warf die Zeitung in einen Mülleimer am Ausgang des Sonderparkplatzes.

      »Hey!«

      »Was soll denn dieses Geschwätz? Das ergibt doch keinen Sinn!«

      »Beruhig dich.« Hensen fasste Babic am Handgelenk. »Diesen Mist erzählen sie doch schon seit mindestens 50 Jahren. Das glaubt sowieso keiner mehr.«

      »Aber die Unternehmen fallen doch irgendwann auf die Nase. Keiner kann mehr ihre Produkte kaufen und …«

      »Quatsch«, unterbrach Di Marco sie. »Was meinst du, wohin die Produkte gehen? Der chinesische Markt ist groß genug. Und wenn der Absatz nicht mehr gesteigert werden kann, bleibt immer noch die Fusion. Auch das kann man als Wachstum verkaufen.«

      Hensen winkte ab. »Komm, lass uns über was anderes reden. Das ist mir zu deprimierend.«

      Es begann zu regnen. Hensen zog ihre Rapper-Mütze wieder auf, Di Marco reichte Mia seine Jacke, damit sie diese über ihren Kopf halten konnte.

      »Hey, danke«, sagte Babic überrascht.

      »Jetzt lasst das Turteln und beeilt euch«, rief Hensen, die bereits zwei Meter weiter direkt vor der Drehtür am Eingang des Gebäudes stand.

      Nachdem sie sich an der Pforte ausgewiesen hatten, wurden sie von einem Servanten in Empfang genommen.

      Die gut 1000 Quadratmeter große Eingangshalle war wirklich beeindruckend. Obwohl die Temperatur auf angenehmen 20 Grad gehalten wurde, stand in jeder Ecke ein tropischer Baum, gut 15 Meter hoch, je von einem eigenen viereckigen Strahler beleuchtet, der dafür sorgte, dass sowohl die partielle Raumtemperatur in der Umgebung der Bäume als auch das Licht äquatorialen Verhältnissen entsprachen.

      Der Boden war aus Sandstein, die Rezeption ganz in Edelstahl gehalten, es gab mehrere Sitzecken mit Organo-Sesseln und -Sofas des japanischen Designers Huko Hukormi. An den weißen Wänden hing zeitgenössische Kunst, überwiegend großformatige Gemälde afrikanischer Künstler wie Motlibo oder Kuwana, und über den ganzen Raum verteilten sich europäische Skulpturen aus dem 19. Jahrhundert.

      Der Servant brachte die drei zu den Aufzügen, deren Türen und Rahmen ebenfalls aus Edelstahl waren.

      »Kolossal, die Partei ist auf jeden Fall nicht ärmer geworden«, konstatierte Babic, die zum ersten Mal hier war und sich anerkennend umsah.

      Wie Hensen begeisterte sie sich für Kunst und Architektur. Nach dem Abitur, als andere Jugendliche ihr Geld für High-Tech-Spielkonsolen ausgaben, hatten die beiden mit hart erspartem Taschengeld und dem Lohn, den Babics Vater ihnen fürs Bedienen in der Kneipe bezahlte, gemeinsam zwei Bilder des Istanbuler Pop-Art-Malers Kaya Ücari gekauft, die mittlerweile einen beachtlichen Sammlerwert hatten.

      Die Fahrt in die 22. Etage dauerte höchstens eineinhalb Minuten. Vor