Network. Ansgar Thiel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ansgar Thiel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839269640
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VR-Distrikten durch systematisch eingesetzte Computerviren.

      Kurz gesagt: Virtuelle Kriminalität brachte Gefahr und Chaos ins virtuelle Leben der Netznutzer. Die Polizeidirektorin war damals selbst Mitglied der Kommission gewesen, die über Strategien einer Regulierung nachgedacht hatte. Der SBBK war dieser Bereich übertragen worden, weil man Spezialisten brauchte, die sowohl außerhalb als auch im Netz operieren konnten und am besten nichts zu verlieren hatten. Hensen und Di Marco gehörten zu dieser Sorte.

      »Was heißt das nun?« Die Direktorin bevorzugte klare Antworten.

      Burger reagierte nicht, sondern schien nachzudenken.

      Merklich ungeduldig begann die Polizeidirektorin, die Teetasse in der Hand, mit dem rechten Fuß zu wippen. Sie schätzte Burgers Abwägen von Problemen im Allgemeinen durchaus, aber jetzt mussten Nägel mit Köpfen gemacht werden. »Das heißt, Sie können es nicht verantworten, die beiden einzusetzen?«, hakte sie nach.

      Burger stieß einen leichten Seufzer aus. Wenn er Hensen und Di Marco einsetzte, dann konnte er auch gleich Babic mit dazunehmen, die ja ohnehin mit den beiden zusammenarbeiten sollte. Allerdings hatte er sich wirklich Sorgen um Babic und Di Marco gemacht, als er von Hensen über die Geiselnahme informiert wurde. Vor allem um Babic. Dabei hatte er nicht einmal so sehr befürchtet, dass sie physisch Schaden nehmen könnte. Sie hatte in ihrer Ausbildung beim FBI in San Francisco gelernt, Angreifer notfalls mit der bloßen Hand zu töten, auch wenn sie sich weigerte, diese Fähigkeiten einzusetzen. Er war sich aber nicht sicher, inwieweit sie psychisch schon in der Lage war, eine solche Situation unbeschadet zu überstehen. Und er brauchte sie unbedingt.

      Er erhob sich wieder. »In Ordnung, ich werde die beiden einsetzen und ihnen mehrere Leute zur Unterstützung beiordnen. Ich möchte aber auch, dass Mia Babic, eine neue Mitarbeiterin, in die Sondereinheit integriert wird.«

      »Babic? Eine Beamtin der SBBK?«

      »Ja. Sie war übrigens diejenige, die gestern als Geisel genommen wurde«, erklärte Burger und schüttelte den Kopf.

      Die Direktorin machte ein erstauntes Gesicht.

      »Sie kommt vom FBI und soll als Analytikerin arbeiten, und zwar nicht nur im normalen Betrieb, sondern auch im Netz.«

      Die Direktorin nickte. Sie versuchte, auch in Detailbereichen der Entwicklung ihres Babys, der SBBK, auf dem Laufenden zu bleiben. Im Bulletin, das sie gestern gelesen hatte, war eingehend erläutert worden, dass die SBBK unbedingt Analytiker und Profiler für die Aufdeckung von Verbrechen im Netz brauchte. Gerade hier stand die SBBK vor dem Problem, dass Netznutzer virtuelle Identitäten verwendeten, die meistens erheblich von den physischen und psychologischen Merkmalen ihrer realen Identitäten abwichen. Außerdem konnten diese Identitäten in bestimmten Fällen nicht zu den Ursprungsorten zurückverfolgt werden, was die Aufdeckung virtueller Kriminalität zusätzlich erschwerte.

      Auf die Idee, einen Net-Profiler einzuschalten, war Burger gekommen, nachdem er mehrere Vorträge eines MIT-Professors für Cyberpsychologie über »Differenzen im Verhalten von Nutzern archetypischer virtueller Identitäten« und »Korrespondenzen von In- und Out-Net-Identities« beim letzten Kongress Die Wissenschaft der Kriminalistik gehört hatte.

      Burger hatte sich mit dem Wissenschaftler unterhalten, und beide waren sich einig gewesen, dass die Klassifikation von Verhaltenstypen virtueller Straftäter in deren realem und in deren Netzleben einen wesentlichen Fortschritt in der Bekämpfung virtueller Kriminalität darstelle. Immerhin würde dies gewissermaßen eine Speicherung von Fingerabdrücken individuellen Verhaltens ermöglichen, die wiederum zur Identifikation unbekannter virtueller Krimineller genutzt werden könnten.

      »Mia Babic ist die optimale Kandidatin für den Job. Sie hat Erfahrung als Profilerin in den USA und eine solide Agentenausbildung beim FBI durchlaufen. Sie hat außerdem an verschiedenen Forschungsprojekten zum Thema Netzverhalten mitgearbeitet.« Burger drehte sich zum Fenster. »Wenn ich die Drei zusammenarbeiten lasse, dann können sie Mallmanns Fall und das Netzprofiling auf einmal angehen.«

      Für die Direktorin waren die Probleme damit gelöst. Sie nahm ihren Mantel und wandte sich Richtung Tür. »Machen Sie es, wie Sie denken. Ich höre von Ihnen«, sagte sie und verließ den Raum.

      *

      Babic hatte nach der Szene im Supermarkt überraschend gut geschlafen, tief und traumlos. Den Tag über hatte sie eigentlich nichts Besonderes gemacht. Ein bisschen gelesen, in einer über 50 Jahre alten gedruckten Ausgabe des Klassikers 1984 von George Orwell, der so sehr danebenlag mit seiner Zukunftsvision und doch so weitsichtig war mit der Warnung vor einer Totalüberwachung. Und dann war sie gemeinsam mit Hensen drei Stunden mit dem Rennrad durch die Gegend gefahren, raus in Richtung Wannsee. Sie hatten gar nicht viel geredet, einfach nur das Zusammensein genossen, so wie früher, als sie auch nicht viele Worte brauchten, um sich zu verstehen.

      Ihr hatte das gutgetan nach dem gestrigen Tag. Die Situation im Supermarkt hatte sie zunächst weniger belastet, als sie gedacht hatte. Sie hatte den Stress erst gespürt, als sie am Wannsee die Räder abstellten und sich am Seeufer auf eine Parkbank setzten. Doch die Ruhe, der leichte Wind und das Rascheln der Blatter hatten eine regelrecht reinigende Wirkung, und sie konnte sich überraschend schnell entspannen.

      Man fragte sie oft, warum sie sich eigentlich nicht häufiger in der virtuellen Welt bewegte, die doch nicht nur Arbeit, sondern auch Zerstreuung und Unterhaltung ohne Ende zu bieten habe. Tja, sie konnte es nicht erklären. Leute wie sie und Hensen waren froh, wenn sie sich so viel wie möglich in der analogen Welt bewegen konnten. Vielleicht war es die digitale Übersättigung, vielleicht war es aber auch das Gefühl, dass buchstäblich alles, was man im Netz machte, überwacht wurde. Da beruhigte sie auch das Gesetz der Digitalen Verhaltensfreiheit nicht, das eine ganze Reihe der Strafrechtsnormen in der digitalen Welt aussetzte.

      Sie ging lieber raus, ganz analog, Joggen, Spazieren, Skaten. Wie sie und Hensen waren auch eine Menge andere Leute unterwegs, Real-World-Worker, aber auch Virtual Worker, die sich lieber analog zerstreuten, als ihre Freizeit im Netz zu verbringen.

      Als sie wieder zurückkam, machte sie sich frisch. Sie stand noch unter der Dusche, als der Rezeptionist des Hotels, in dem sie vorübergehend untergebracht war, anrief. Genau sieben Minuten brauchte sie, um sich abzutrocknen, anzuziehen und etwas zurechtzumachen.

      Das BMW-E-Mobil der SBBK stand direkt vor dem Hoteleingang. Das E-Mobil war ein Dreisitzer, zwei Plätze hinten und ein Fahrersitz vorne.

      Di Marco grüßte Babic lächelnd vom Rücksitz aus. Viel Platz war nicht mehr neben ihm.

      Babic umarmte Hensen, bevor sie sich neben Di Marco zwängte. Hensen kletterte auf den Fahrersitz, schob sich routiniert den Sprechbügel ihres in die Sonnenbrille integrierten Mobile-Speakers vor den Mund und lehnte sich zurück.

      Als sie Di Marco im Rückspiegel sah, der trotz allen Platzmangels zufrieden lächelte, drehte sie sich um und verwuschelte ihm die Haare. »Di Marco, deine Tolle ist immer noch wie frisch vom Friseur, vom Feinsten«, frotzelte sie in Anspielung auf seine Elvis-Obsession.

      Di Marco grinste.

      Wenige Minuten später fuhren sie über den Ku’damm. Dessen Straßenfläche war nach wie vor für E-Mobile mit Sonderzulassungen reserviert; die breiten Flanier- und Eventstreifen auf beiden Seiten wurden wie immer um die frühe Abendzeit von regelrechten Horden verschiedenster Nationalitäten überflutet: Touristen, Kauflustige, die ihr Bürgergeld verbraten wollten, Skater, Hopper, Chill-Boarder und Biker aller Art, und immer wieder ältere Menschen, die, an die Häuser gedrängt, um Essen oder ein bisschen Geld bettelten.

      »Hey, Mia, schläfst du?«, riss Hensen ihre Freundin, die stumm aus dem Fenster schaute, aus deren Gedanken.

      »Ich habe Hunger.«

      »Gehen wir zu dir nach Hause.«

      »Wie, nach Hause? Ich wohne noch im Hotel.«

      »Ich meine ins Miles, da warst du bestimmt schon lange nicht mehr. Und du bist bestimmt gespannt, wie das heute aussieht.«

      »Definitiv«, sagte Mia und verzog das Gesicht.