Philipp ging zum Empfang im ersten Stock. Seine Schritte hallten laut durch das Gebäude. Zu seiner Überraschung wurde er oben an der Treppe nicht von einer der für das Private Banking sonst üblichen ansehnlichen Empfangsdamen begrüßt. Stattdessen nahm ihn ein imposanter älterer Herr mit dem Händedruck eines Holzfällers in Empfang.
»Grüß Gott, Herr Professor Humboldt. Alexander von Werdenberg. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Die Freude ist meinerseits«, erwiderte Philipp freundlich. Neugierig betrachtete er den geheimnisvollen Bankier. Von Werdenberg musste in seiner Jugend eine geradezu furchteinflößende Erscheinung gewesen sein, denn noch heute war er kräftig, vital und strotzte vor Gesundheit. Er war trotz seines Alters immer noch gleich groß wie Philipp, der mit seinen 1,90 Meter nicht zu den Kleinsten gehörte. Die Augen des Patrons leuchteten klar und wach, ohne Anzeichen einer Eintrübung. Die Körperhaltung aufrecht, Rücken und Schultern durchgestreckt. Das scharfe Rasierwasser von Werdenbergs stach Philipp sofort in die Nase, keine Spur von dem leicht süßlichen Geruch, der bei Menschen ab einem gewissen Alter oft wahrzunehmen war. Von Werdenberg war ohne Zweifel der rüstigste Senior, den sich Philipp vorstellen konnte. Was mochte wohl sein biologisches Alter sein? 65? Höchstens. Seine Konstitution war geradezu beängstigend.
Von Werdenberg war sich seiner Wirkung zweifellos bewusst und kam dem obligaten Kompliment zuvor: »Ich war Schwimm- und Fechtmeister an der Universität. Aber das ist lange her. Mittlerweile bin ich auf der falschen Seite der 80. Mein Gelenke knacken am Morgen wie ein antiker Holzstuhl.« Seine Stimme war tief und warm.
Philipp quittierte seine Aussage mit einem ehrlichen Lachen.
Von Werdenberg legte die Hand schwer auf Philipps Schulter und schob ihn vom Treppenhaus in den offiziellen Empfangsbereich. Das Gebäude war in einem Topzustand, als wäre erst gestern eine umfassende Renovierung abgeschlossen worden. Frisch gebohnerte Holzböden, weiße Steinwände, schwarze Designermöbel. An den Wänden hingen Bilder des sonst so fotoscheuen Bankiers, die von Werdenberg mit bekannten Persönlichkeiten zeigten: von Werdenberg kaffeetrinkend mit Helmut Kohl, von Werdenberg in einer Bibliothek neben Johannes Paul II., von Werdenberg zigarrerauchend mit Franz Josef Strauß, von Werdenberg lachend in einer größeren Gruppe um Ronald Reagan, der noch junge von Werdenberg mit sieben älteren Herren, Philipp erkannte Willi Ritschard und Kurt Furgler. Daneben gab es noch kleinere Bilder mit Willy Brandt, François Mitterrand, Margaret Thatcher, Prinzessin Diana und Elizabeth Taylor. So viel Intimität war ungewöhnlich für die sonst auf Diskretion bedachte Privatbank.
Von Werdenberg stellte sich neben Philipp. »Zugegebenermaßen etwas eitel von mir. Alles Unikate. Die Negative liegen in meinem Safe und es gibt keine weiteren Abzüge. Ich habe immerhin gewartet, bis die Damen und Herren von uns gegangen sind. Also eine zweifelhafte Ehre, hier zu hängen.«
»Da haben wir ja dann schon einige Seiten für Ihre Firmengeschichte«, sagte Philipp.
»Sie kommen ja gleich zur Sache, junger Mann. Das gefällt mir. Keine Lebenszeit vergeuden. Vor allem, wenn – wie bei mir – der obere Teil der Sanduhr bald leer ist.« Von Werdenberg sprach ohne Wehmut, eher wie ein Wissenschaftler, der nüchtern ein Faktum erklärt. »Aber diese Persönlichkeiten werden natürlich nicht in unserem Buch auftauchen. Glauben Sie mir, Professor, ich hätte nicht viel Spannendes über die Herrschaften zu berichten, im Gegensatz zu den Damen.« Für einen kurzen Augenblick huschte ein Ausdruck von Melancholie über sein Gesicht.
Von Werdenberg erinnerte Philipp an einen Schauspieler, dessen Name ihm partout nicht einfallen wollte. Es blieb keine Zeit nachzudenken, denn zwei Frauen traten aus einem der Sitzungszimmer, die sternförmig um den Empfangsbereich angeordnet waren. Beide waren dunkel gekleidet. Die eine trug ein elegantes schwarzes Deux-Pièces. Mit den hohen Schuhen und kurzgeschnittenen blonden Haaren hätte sie auf das Titelbild jeder Bankbroschüre gepasst. Die andere wirkte in ihrem schwarzen Hosenanzug und mit den offenen langen Haaren eher wie eine Künstlerin oder Journalistin.
Von Werdenbergs Augen strahlten noch heller. Er winkte die Frauen zu sich. »Darf ich Ihnen vorstellen: Da wäre einmal Julia von Werdenberg, meine Tochter, und Frau Loppacher, freischaffende Journalistin, aber de facto schon fast eine feste Mitarbeiterin bei uns. Frau Loppacher wird Sie beim Schreiben unserer Firmengeschichte unterstützen. Sie ist quasi Ihre Ghostwriterin und wird die relevanten Information rasch in eine gut leserliche Form bringen.«
Philipp nickte den Damen zu. »Na dann, auf eine gute Zusammenarbeit«, sagte er freundlich zu der Frau mit den offenen Haaren. Diese quittierte mit einem verlegenen Lächeln und schielte zu ihrer Begleiterin. Philipp bemerkte seinen Fauxpas.
Von Werdenbergs Tochter reagierte souverän. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Professor Humboldt. Wir lassen Sie jetzt in der Obhut meines Vaters. Sie haben sicher einiges zu besprechen.« Sie drückte den Knopf des Personenaufzuges. Julia von Werdenberg hielt offensichtlich wenig von Smalltalk.
Sehr sympathisch.
Sie verabschiedeten sich und Philipp betrat mit von Werdenberg den Lift. Der Patron hielt eine Karte an den Sicherheitssensor und drückte auf den Knopf neben der Aufschrift »Privat«. Danach verschwanden die Damen hinter der Fahrstuhltür, die sich mit einem sanften Summen schloss.
Der Privatraum des Firmenchefs beherbergte eine stattliche Bibliothek. Die schwarzen Regale mit den glänzenden Chromstahlverstrebungen waren perfekt auf das moderne Design des Raumes abgestimmt. Von Werdenberg war offensichtlich jemand, dem die Details wichtig waren. Er schätze hier oben, hoch über der hektischen Bahnhofstrasse, die Kraft der Ruhe, erklärte von Werdenberg. Das habe nichts mit seinem Alter zu tun, schob er rasch nach. Schon zu Beginn seiner Karriere habe er Menschenansammlungen nach Möglichkeit gemieden. Diesen Wunsch nach Diskretion teile er mit vielen seiner Kunden. Leider hätten in letzter Zeit eitle Selbstinszenierung und schlechte Manieren die Oberhand gewonnen. Er selbst habe sich immer an den Maximen orientiert, die Marc Aurel in seinen Aphorismen formuliert habe: hart an sich arbeiten und die einem auferlegten Pflichten erfüllen. Er ging zur Bücherwand, die sicher einige hundert Werke umfasste, und winkte Philipp zu sich. Mit sichtlichem Stolz wies er darauf. »Alles Erstausgaben. Einige datieren bis ins Mittelalter zurück.«
Philipp war ehrlich beeindruckt. »Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Sammlung angelegt?«
Von Werdenberg nickte zufrieden. »Endlich jemand, der die richtigen Fragen stellt und nicht mit irgendwelchen Gemeinplätzen seine Unwissenheit zu kaschieren versucht.« Beinahe zärtlich strich er mit der Hand über die ledernen Buchrücken. »Der Schwerpunkt der Sammlung befasst sich mit den verschiedensten Aspekten der Macht und des Bösen. Ein erfolgreicher Manager, der nicht mindestens einmal Machiavelli gelesen hat? Undenkbar. Ein CEO, der nicht mit den Schattenseiten des Lebens Erfahrungen gesammelt hat? Unwahrscheinlich.« Der Patron war in seinem Element. Sei es denn nicht die Kraft und die Vitalität des Bösen, die uns Menschen fasziniere? Hätten nicht alle eine dunkle Seite in sich, der man nur zu gerne einmal Auslauf gewähren würde? Wer wolle nicht aus den tristen Routineabläufen ausbrechen, die einem von Kindesbeinen an durch Eltern, Schule, Staat und Kirche vorgegeben würden? Die Beschäftigung mit dem Bösen bedeute doch nur, dass man sich selbst auf der Spur sei. Man stelle sich Faust ohne Mephisto vor oder den Fledermausmann ohne den Joker. Kafka habe mit Fug und Recht behauptet, dass das Gute allein trostlos sei. »Aber verzeihen Sie, Herr Professor. Ich langweile Sie sicher mit dem dummen Geschwätz eines alten Mannes.«
Philipp war elektrisiert. Er hatte den Ausführungen von Werdenbergs nichts hinzuzufügen. Jeder hat seine dunkle Seite, niemand wusste das besser