Bahnhofstrasse. Andreas Russenberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Russenberger
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783839268629
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es zu schätzen. So können wir uns auf unsere Forschungen konzentrieren und irgendwann vielleicht den Nobelpreis gewinnen.«

      »Hören Sie auf zu schleimen und machen Sie sich endlich auf den Weg. Sonst sehe ich schwarz für Ihre Forschungen …«

      Wenn Höflichkeit das Florett war, so stand die Drohung für den Zweihänder.

      Auch nicht zu unterschätzen.

      Martha Fries, so hieß die Frau mit bürgerlichem Namen, war bekannt für ihre Wutausbrüche. Das machte sie Philipp durchaus sympathisch. Er mochte Menschen, die mit Leidenschaft bei der Sache waren und aus ihrem Herz keine Mördergrube machten. Doch dadurch wurde das Problem der Vorlesung nicht gelöst. Er versuchte ein letztes Mal zu parieren. »Können wir das Meeting nicht am frühen Nachmittag durchführen oder alles kurz am Telefon besprechen? In …«, er blickte auf seine Armbanduhr, »… 55 Minuten beginnt meine Vorlesung und ich würde mich gerne noch vorbereiten. Um präziser zu sein: Ich muss mich noch vorbereiten.«

      »Ist nicht mein Problem. In fünf Minuten bei mir. Und Sie werden rechtzeitig zu Ihrer Vorlesung erscheinen. Versprochen.«

      Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, hatte die Rektorin aufgelegt. Stille, bis auf den penetranten Summton. Was war der guten Frau über die Leber gelaufen? Philipp fluchte leise vor sich hin. Schließlich packte er die spärlichen Notizen zusammen und stopfte sie in seine Ledertasche. Er klemmte sich seine soeben erschienene Habilitation zur modernen Schweizer Bankengeschichte unter den Arm, hängte sich die Tasche um die Schulter und machte sich hastig auf den Weg.

      Vor dem Institut zündete sich Philipp umständlich eine Zigarette an. So viel Zeit musste sein. Er nahm einen tiefen Zug. Sein Büro lag nur einen Steinwurf vom Hauptgebäude mit seiner markanten Kuppel entfernt. Die altehrwürdige Universität war 1832 gegründet worden, und mittlerweile wurden hier fast 30 000 Studenten in allen möglichen und unmöglichen Fachrichtungen unterrichtet. Ganz Zürich war stolz auf die lange Erfolgsgeschichte, die auch einige Nobelpreisträger hervorgebracht hatte. Die Universität war aber in den letzten Jahren, was Ruf und Forschungsgelder betraf, deutlich hinter die benachbarte Eidgenössische Technische Hochschule, kurz ETH, zurückgefallen. Es war ein offenes Geheimnis, dass dieser Umstand die Universitätsrektorin Fries zur Weißglut treiben konnte. In solchen Momenten ging man ihr besser aus dem Weg.

      Der Wind hatte aufgefrischt und die kleine Seitenstraße, die zum Haupteingang der Universität führte, war mit goldenen Blättern bedeckt. Der heiße und viel zu trockene Sommer hatte die Bäume in Mitleidenschaft gezogen und sie begannen bereits, ihre farbige Pracht abzuwerfen. Der Nieselregen klebte das Laub am Boden fest. Philipp ärgerte sich, seinen Mackintosh-Mantel im Büro gelassen zu haben. Immerhin trug er das Tweed-Jackett – ein Geburtstagsgeschenk von Sophie. Jeder Professor, der etwas auf sich halte, brauche nun mal ein Tweed-Jackett, hatte seine Frau gemeint. Als langjährige Rechtsprofessorin musste sie es ja wissen. Auf jeden Fall war es ein praktisches Kleidungsstück, von welchem Philipp mittlerweile drei gut sitzende Modelle in leicht unterschiedlichen Farbtönen besaß: Schwarz, Anthrazit, Dunkelgrau. Was seine Kleidung betraf, war er konservativ.

      Auf der anderen Seite des Weges kam ihm eine kleine Gruppe entgegen. Der kompakte Schwarm wurde von einer adretten eleganten Frau angeführt. Im Gegensatz zu Philipp hatte sie einen Regenmantel an und diesen eng um ihre Taille zugeknöpft. An ihrem angewinkelten Unterarm hing eine farblich abgestimmte Kelly Bag. Das schwere Gepäck wurde von ihrem Assistenten getragen. Sie winkte Philipp freundlich zu und dozierte weiter. Nadja Schelbert war ihres Zeichens Leiterin der betriebswirtschaftlichen Fakultät. Punkto Kompetenz, Auftreten und Ehrgeiz hätte Philipp seine Kollegin problemlos in einem Verwaltungsrat oder auf der obersten Managementstufe eines internationalen Finanzkonzerns vorstellen können. Aber auch so war sie über den Elfenbeinturm der Universität hinaus bekannt und ein gern gesehener Gast bei Radio, Presse und TV-Sendern. Sie leitete zudem das Prestigeprojekt von Rektorin Fries – »Fit for Future«, wie dieses unbescheiden hieß. Schelbert war ein ausgesprochenes Alphatier und karrierebewusst. Er hätte es ihr nicht übelgenommen, wenn sie ihn als ungebetene Konkurrenz betrachtet hätte. Bis anhin hatte sie sich ihm gegenüber jedoch immer korrekt verhalten, und Philipp wollte sich an der Universität sowieso nicht in politische Grabenkämpfe verwickeln lassen. Er nickte ihr ebenfalls freundlich zu und wartete mit dem nächsten Zug an der Zigarette, bis der Tross an ihm vorbeigegangen war.

      Philipp bemerkte aus dem Augenwinkel, wie die Studenten neugierig den Kopf nach ihm drehten. Wie so oft. Er wusste, dass er kein unbeschriebenes Blatt war. Als ehemaliger CEO der Zürcher Investment Bank war er Projektionsfläche für die abenteuerlichsten Vorstellungen. Für die einen verkörperte er den erfolgreichen Exoten, den Idealisten oder zukünftigen Starprofessor, für die anderen den raffgierigen Kapitalisten oder unliebsamen Konkurrenten. Philipp nahm es niemandem übel. Sein Lebenslauf war nun mal nicht 08/15.

      Und das war gut so.

      Vor dem Eingang zum Hauptgebäude schnippte er die Zigarette auf einen Gully, wo sie auf einer Stahlstrebe wie eine brennende Kinderschaukel die Balance suchte, dann allerdings ins Rollen geriet und mit einem leisen Zischen in der Dunkelheit verschwand. Philipp eilte ins Gebäude und ließ das garstige Wetter hinter sich.

      Was mochte die Rektorin so dringend von ihm wollen?

      Der Auftrag

      Das Vorzimmer des Rektorats war das Reich des einzigen Sekretärs der Universität. Fast schon diskriminierend. Irgendwann würde es sicher dafür eine Quotenregelung geben. Der junge Mann hinter dem massiven Schreibtisch war jedenfalls ein Kind alter Schule. Loyal seiner Chefin gegenüber, herablassend gegenüber Assistentinnen und Assistenten, egal welcher Fakultät, neutral gegenüber Professoren und Professorinnen, wobei die Geisteswissenschaftler – also Historiker, Germanisten und Philosophen – eindeutig tiefer in seiner Gunst standen als die Ökonomen oder Juristinnen, was er sie auch spüren ließ, etwa in Form von längeren Wartezeiten oder dem vergeblichen Hoffen auf eine Tasse Kaffee. Als Philipp den Raum betrat, tat der Vorzimmerdrache so geschäftig wie jemand, der gerade nichts zu tun hatte. Er belegte Philipp mit einem vorwurfsvollen Blick. »Der Chef wartet schon auf Sie …«

      Ein »Die Chefin, bitte« konnte sich Philipp gerade noch verkneifen. Er spürte, wie sich seine rechte Hand zu einer Faust ballte. Aber er hatte keine Zeit zu vergeuden. Um die Nervensäge würde er sich ein andermal kümmern.

      Die Rektorin war klein und zierlich. Ihre funkelnden Augen und die aufrechte Körperhaltung ließen jedoch keinen Zweifel daran aufkommen, wer in diesem Büro das Sagen hatte. Fries strahlte eine Präsenz aus, die manchen einzuschüchtern vermochte. Und dies zu Recht. Es war schon vorgekommen, dass die Rektorin in Ungnade gefallenen Professoren und Professorinnen die undankbarsten Randstunden für deren Seminare und Vorlesungen zugewiesen hatte. Wenn man, verschuldet oder unverschuldet, auf ihre schwarze Liste geraten war, fand man seine Vorlesung im Semesterprogramm schnell ganz hinten, am Freitag um 19 Uhr. Fries hatte in der Vergangenheit einige Karrieren gefördert – und mindestens so viele vorzeitig beendet. Philipp musste bei ihrem Anblick immer an Judi Dench in der Rolle als Chefin des MI6 denken, was Philipp als alten James-Bond-Fan köstlich amüsierte. Er hatte im Tagesgeschäft nicht viel mit der Chefin der Universität zu tun, wusste aber zu schätzen, dass sie ihn als Quereinsteiger unterstützt und so seine Professur erst ermöglicht hatte. Auch bei diesem Vorfall mit dem besoffenen Studenten hatte Fries kein Theater veranstaltet. Philipp wusste natürlich, dass ihre Unterstützung nicht uneigennützig war und dass der gewiefte Machtmensch, welcher die Rektorin nun mal war, früher oder später eine Gegenleistung einfordern würde.

      Quid pro quo.

      »Nehmen Sie Platz, mein lieber Humboldt«, sagte die Rektorin mit gefährlicher Freundlichkeit und wies auf die dezent arrangierte Sitzgruppe. Philipp setzte sich in einen der bequemen schwarzen Ledersessel. An der gegenüberliegenden Wand hingen kleine Porträts von bekannten Dichtern, Musikern, Forscher und Politikern. Voltaire, Mark Twain, Goethe, Heine, Tucholsky, Lessing, Mozart und Haydn, George Washington, Benjamin Franklin, Roosevelt, Hoover und Churchill, dann auch Clark Gable und Josephine Baker. Eine bunte Mischung ohne erkennbares Schema.

      »Interessante Bekanntschaften«, sagte Philipp und zeigte auf die Bildergalerie.