Bahnhofstrasse. Andreas Russenberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Russenberger
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783839268629
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und 2016 vier vermögende Personen spurlos verschwunden, die als großzügige Spender bei der Werdenberg Stiftung verdankt worden sind. Wahrscheinlich hat das nichts mit der Bank zu tun. Jedenfalls wurden die Fälle damals von den jeweiligen Staatsanwaltschaften untersucht, die Erben bekamen ihr Geld und es gab keine Verdachtsfälle irgendwelcher Art gegen die Bank. Wo kein Motiv, da keine Tat. Lektion eins in der Polizeischule.«

      Philipp schüttelte den Kopf. »Multimillionäre und Milliardäre können exzentrisch sein. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Muss wirklich nichts bedeuten. Vielleicht wurden sie von ihren korrupten Regimen aus dem Weg geräumt und leben heute irgendwo in der sibirischen Tundra.«

      Armand lachte. Die Unbeschwertheit seines Freundes hatte ihn beruhigt. »Wenn es dir recht ist, werde ich weiterhin die Ohren offenhalten. Nur für den Fall, dass dieser von Werdenberg doch etwas im Schilde führt.«

      Die Freunde nickten sich zu und gingen wieder ins Haus. Im Wohnraum zog sich Vincent gerade seine Jacke über. Martin und Armand taten es ihm gleich. Armand klopfte Vincent dabei kräftig auf den Rücken.

      »Glück im Spiel, Pech in der Liebe – oder umgekehrt. Ich gehe jetzt in meine verwaiste Bude und Vincent zu seinem Unterwäschemodel.«

      Der Angesprochene griente über beide Ohren. »Und weißt du, was das Beste ist? Sie schläft nie in ihrer Arbeitskleidung.«

      Lachend verabschiedeten sie sich von ihrem Gastgeber.

      Philipp hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und unvernünftigerweise noch eine Flasche Wein geöffnet. Er wusste, dass er es am nächsten Tag bereuen würde. Bereits der letzte Schluck war einer zu viel gewesen und der davor ebenfalls. Aber es ging ihm zu viel durch den Kopf. Ruhig schwenkte er die dunkle Flüssigkeit in dem tiefen Glas und sog den würzigen Duft ein. Die letzten Jahre waren die glücklichsten in seinem Leben gewesen. Obwohl viel passiert war und seine Kinder unglaublich schnell heranwuchsen, spürte Philipp ein behagliches Gefühl von Zeitlosigkeit, als wenn sein Leben immer so bleiben würde. Es ging stetig bergauf, vorwärts. Sein Rucksack füllte sich mit Erfahrungen und Eindrücken, positiven und negativen, wurde dabei jedoch auf seltsame Weise leichter. Philipp war dankbar für sein Leben. Nicht auf eine religiöse Art und Weise, es war einfach nur eine tief empfundene Zufriedenheit, sein Glück auch als solches wahrzunehmen und sich nicht an unbedeutenden Kleinigkeiten aufzureiben. Neid oder Unzufriedenheit hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt. Konnte man sich das antrainieren oder wurde einem diese Gabe in die Wiege gelegt? Philipp wusste es nicht.

      Er nahm einen großen Schluck Rotwein. Seine Gedanken schweiften zur Privatbank von Werdenberg. Philipp hatte die Bankenwelt mit ihren Statussymbolen und Eitelkeiten nie vermisst und die Kontakte seiner alten Netzwerke über die Zeit einschlafen lassen. Alle seine Erinnerungen lagen im Keller in einer kleinen Kartonschachtel: Visitenkarten mit seinen vielen Beförderungsstufen, Präsentationen aus der Anfangszeit, Erinnerungsstücke von exotischen Geschäftsreisen, einige Werbegeschenke. Dennoch freute er sich auf das zeitlich beschränke Projekt in seinem alten Milieu. Er hatte der Bankenwelt schließlich einiges zu verdanken, was er nie vergessen hatte. Und wie er bereits Armand gesagt hatte – das Projekt ermöglichte ihm, auf dem Weg zum Professorenolymp einige Etagen zu überspringen.

      Sophie gesellte sich zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn.

      »Die Kinder schlafen tief und fest. Und Bella ist wieder in Davids Bett gehüpft …«

      Philipp lachte. Als Sophie einmal ein Wochenende mit den Kindern zu ihren Eltern gereist war, hatte er den Hund zu sich in Bett gelassen. Das war aber sein Geheimnis geblieben. Er konnte die kindliche Freude seines Sohnes über die Gesellschaft des treuen Vierbeiners daher nur zu gut verstehen.

      Sophie nahm Philipp das Weinglas aus der Hand und trank einen Schluck. Ihr Pyjama fühlte sich warm und flauschig an. Philipp liebte den Geruch ihrer Bodylotion – er musste dabei immer an Zuckerwatte denken.

      »Na, wie geht es meinem schlagfertigen Professor Jones?« neckte Sophie ihn und zeigte dabei die kleine Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen, die bei Philipp auch nach so vielen Jahren noch ein wohliges Kribbeln auslöste – wie bei ihrem ersten Date in der Oper. Das sanfte, kaum wahrzunehmende Lispeln erinnert ihn an das Summen einer Honigbiene.

      Er sah seine Frau ehrlich überrascht an. »Von wem hast du das denn? Ist dir unsere gute Rektorin zufälligerweise über den Weg gelaufen? Sie nannte mich neulich sogar einen Krieger.«

      »Nein, aber anscheinend wirst du von deinen jungen Verehrerinnen Indiana Jones genannt. Habe ich gehört. Irgendwo auf dem Flur. Du kennst ja die Uni – überall gibt es Augen und Ohren, wie in einem mittelalterlichen Schloss. Hast du dich nie gefragt, warum so viele Studenten und vor allem Studentinnen deine Vorlesungen besuchen? Am Thema kann es ja nur schwerlich liegen.«

      Philipp küsste seine Frau innig und lang. »Ist da jemand eifersüchtig?«

      »In your dreams. Aber warum nennt Fries dich einen Krieger? Du hast doch nicht schon wieder jemanden verprügelt?« Sie sah Philipp sorgenvoll an.

      »Nein, nein«, antwortete dieser wahrheitsgetreu. »Schelbert, die Ökonomieprofessorin, nennt mich so, weil ich gemäß ihren Aussagen alles kriege, was ich will.«

      »So, so, die Schelbert. Wenn sie dir zu nahe kommt, kriegt sie auch etwas. Nämlich ein Problem – mit mir!« Sophie lachte laut.

      »Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Ich bin der Schelbert sicher ein Dorn im Auge und traue ihr nicht so richtig über den Weg. Du arbeitest doch in dieser interdisziplinarischen Kommission mit ihr zusammen. Verhält sie sich dir gegenüber korrekt? Sonst kriegt sie es mit mir zu tun«, sagte er schmunzelnd. Es war ihm ernst. Für seine Familie würde er alles tun.

      »Danke, dass du mich verteidigen würdest, mein kleiner Raufbold. Aber ich kann mich gut selber wehren und bis jetzt hat sie sich immer freundlich verhalten.«

      Sie küssten sich lange und innig. Philipp liebte es, in den dunkelblauen Augen seiner Frau zu versinken.

      »Dafür weiß ich jetzt, was ich dir zu Weihnachten schenke.«

      »Eine Peitsche wie Indiana Jones?«, fragte Philipp freudig.

      »Nein, einen Filzhut«, antwortete Sophie fröhlich und zog ihn an sich.

      Das Verschwinden

      des Monsieur Laurent

      Zürich, Sommer 1988

      »Monsieur Laurent, einen Augenblick, bitte.«

      Der angesprochene Mittfünfziger drehte sich an der Tür noch einmal zu von Werdenberg um und blickte ihn fragend an. Er hatte mehr von dem Bankier bekommen, als er sich je hätte vorstellen können. Die Privatbank von Werdenberg war jeden Rappen wert. Genauer – jede Million.

      »Sie wünschen?«, fragte der galante Franzose, der ohne Zweifel aus bestem Hause stammte und die teuersten französischen Privatschulen besucht hatte, leicht von oben herab. Sein graumeliertes Haar war sorgfältig mit reichlich Brillantine nach hinten gekämmt worden und klebte am Kopf wie ein Motorradhelm. Er gehörte ganz offensichtlich zu der Gattung von Männern, die ihre Größe auf- und ihr Gewicht abrundeten.

      »Sie enttäuschen mich zutiefst, Monsieur«, rügte ihn der Besitzer der Privatbank von Werdenberg streng. Er hielt den Zeigefinger in die Luft wie einen Taktstock, und seine Halsschlagader pulsierte gefährlich. Sein Gesicht war rot angelaufen. Der ganze Raum schien sich zu verdunkeln. »Wenn ich nicht ich wäre, dann hätten Sie soeben die Arbeit von zwei Jahren und viele Millionen Schweizer Franken zerstört! Monsieur Laurent existiert nicht mehr, haben Sie das bereits vergessen? Er ist heute spurlos verschwunden und wird nie wieder auftauchen. Zumindest nicht lebendig.« Die Stimme des Bankiers hatte einen drohenden Ton angenommen.

      Der angesprochene Privatkunde lief rot an wie eine Tomate. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Er hatte das Gefühl, auf die Größe eines Erstklässlers zu schrumpfen. Sein zweifellos maßgeschneiderter Anzug war ihm von einer Sekunde auf die andere eine Nummer zu groß geworden. Von Werdenberg