Wohlensee. Thomas Bornhauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bornhauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038182801
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die Frage, wie es so weit hatte kommen können.› Oder: ‹Der Trainer sagte, wenn du tot umfallen würdest, könnte ich dennoch gut zu Abend essen gehen.› Oder: ‹Es gab Turnerinnen, die Magglingen verliessen, weil sie wollten oder mussten – und danach mit Essstörungen oder Magersucht kämpften. Aber der Verband sah vor allem, dass die Resultate besser waren als beim Amtsantritt des neuen Trainers.›»

      «Nicht vergessen, Regula, alle erfolgreichen Sportlerinnen und Sportler haben harte Zeiten hinter sich, anders geht es nicht. Und verdienen zum Schluss eine ganze Menge Geld. Nebst Ruhm und Ehre.»

      «Janine, das war nicht meine Frage.»

      «Also, Regula: Ariella Kaeslin hat ausschliesslich im Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbandes STV trainiert, das sich in Magglingen befindet. Der Betrieb dieses Leistungszentrums liegt in der Verantwortung des STV. Das Baspo kann nicht beurteilen, ob und inwieweit die Vorwürfe Ariella Kaeslins gegen ihre Trainer zutreffen. Fakt ist, dass der Spitzensport auch im Kunstturnen sehr viel von jenen abverlangt, die an die Spitze wollen. Ob dieser Einsatz geleistet werden soll, müssen Sportlerinnen und Sportler – mit Unterstützung ihres persönlichen Umfelds – selber entscheiden.» (Anm. d. Verf.: Diese Aussage des Baspo liegt dem Autor schriftlich vor.)

      Regula Wälchli hatte nicht vor, ihre Beziehung zu Janine wegen einer ihr nicht persönlich bekannten Kunstturnerin aufs Spiel zu setzen, weshalb man sich wieder auf Karl-Heinz Becker konzentrierte, der sich Sekunden später als «schwarzes Loch» herausstellte, weil er in keiner Liste zu finden war. Die Baspo-Frau nutzte danach die Gelegenheit, ihrer ehemaligen Schulkameradin das weitläufige Gelände der Hochschule in allen Einzelheiten zu zeigen. Die Art und Weise, wie sie während des Rundgangs Regula Wälchli Fragen zur Person von Karl-Heinz Becker stellte, verstärkte bei der Kriminalbeamtin das Gefühl, dass Janine vielleicht doch mehr wusste, als sie ausgesagt hatte. Zudem konnte die Ermittlerin, angeblich aus Gründen des Datenschutzes und ohne Beschluss der Staatsanwaltschaft, die Listen selber nicht einsehen. Schliesslich musste sich Wälchli jedoch eingestehen, dass wohl alles nur Zufall war oder ihrem persönlichen Vorstellungsbereich entsprang, sodass sie sich nach dem Rundgang von Janine verabschiedete. Dennoch: Die Lektüre des Buchs über Ariella Kaeslin kratzte arg an der Fassade von Magglingen.

      Regula Wälchli dachte auch nicht daran, sich in eine Diskussion ganz anderer Dimension einzulassen. Ein ehemaliger Schweizer Kunstturner, 169 Zentimeter gross, hatte ihr nämlich Interessantes erzählt: Bei einer späteren Rückenmarkuntersuchung zu Beginn der Achtzigerjahre – in keinem Zusammenhang mit dem Sport – sei ihm von den Ärzten mündlich mitgeteilt worden, dass man bei ihm Spuren von Wachstumshemmern gefunden habe. Regula Wälchli, sich bewusst, dass es im Kunstturnen von Vorteil ist, eher klein gewachsen zu sein, fragte ihn, wie das möglich sei. «Ich weiss es nicht, man hat uns nie etwas gesagt, wir mussten als Jugendliche einzig regelmässig Vitamine schlucken, die man uns verabreicht hat.» (Anm. d. Verf.: Die Aussagen des Betroffenen wurden dem Autor gegenüber persönlich gemacht. Offizielle Stellungnahme von Thomas Greutmann, Ressortchef Kommunikation und Medienchef beim Schweizerischen Turnverband STV zuhanden des Autors: «In der Schweiz sind meines Wissens keine solchen Vorkommnisse bekannt.»)

       Maximilian Graf von Neippenberg. Immer noch Montag, 29. Januar.

      In Hinterkappelen kamen Stephan Moser und Elias Brunner unter dem Motto für Berner «Nume nid gschprängt, aber geng e chly hü…» voran, was aber überhaupt nichts mit den Akteuren als vielmehr mit den Vorschriften zu tun hatte. Daran hatten sich auch unsere beiden Gesetzeshüter zu halten, wenn auch widerwillig, was sie jedoch niemandem zu verstehen gaben.

      Die Liegenschaftsverwaltung für den Kappelenring 7 hatte den Kantonspolizisten Frau Silvia Zimmermann als erste Kontaktperson angegeben, die für jenes Haus zuständige Hauswartin. Sekunden nach ihrem Läuten hörten die beiden Beamten diese durch die geschlossene Türe hindurch «Ig bi am choche!» sagen, besser gesagt rufen. Entsprechend begeistert kam sie mit einem Tuch daher, ihre Hände abputzend, damit die beiden Herren nach der Begrüssung nicht Spuren von Tomatensauce zu beseitigen hatten.

      «Frau Zimmermann? Ich bin Stephan Moser von der Kantonspolizei Bern, das hier ist mein Kollege Elias Brunner.» Beide zeigten Silvia Zimmermann ihre Dienstausweise.

      «Ich weiss.»

      «Und wie das? Sind Sie bei der NSA?», schmunzelte Moser.

      «Sie werden es kaum glauben, Herr Moser, aber bei der Liegenschaftsverwaltung haben sie ein Telefon. Ich auch. Sie möchten also zu Herrn Becker?»

      «Genau, wir möchten uns bei ihm umsehen.»

      «Und weshalb läuten Sie nicht ganz einfach bei ihm? Meines Wissens ist er nicht gehörlos.»

      «Haben wir sehr wohl, Frau Zimmermann, nur hat niemand geöffnet», präzisierte Brunner.

      «Warten Sie husch, ich nehme nur die Pfanne vom Herd und komme dann mit Ihnen rüber.» Sprach’s und drehte den Beamten ihren Rücken zu.

      «1:0. Die isch o nid uf e Gring gheit», stellte Moser flüsternd zu Brunner fest.

      Wenige Minuten später marschierten die drei in Richtung Kappelenring 7. Silvia Zimmermann kannte Stephan Moser vom Sehen her, wusste, wer er war, auch wenn er auf der anderen Seite des Kappelenrings wohnte, mit einer Südländerin, soweit sie sich erinnern konnte. Ihre Kenntnisse behielt sie allerdings für sich, die Polizei musste ja auch nicht immer über alles Wissen der Bürger im Bilde sein. Wenige Minuten später hatten sie den Wohnblock mit der Nummer 7 erreicht. Beckers Wohnung lag im Parterre, weshalb man auf die Benutzung des Lifts verzichten konnte. Auch nach dem dritten Läuten öffnete niemand.

      «Frau Zimmermann, wir müssen in die Wohnung, den Beschluss erwarten wir per SMS in den nächsten Minuten, ich werde ihn Ihnen sofort zeigen.» «Ist Gefahr in Verzug?», fragte Silvia Zimmermann fachkundig, was die beiden Herren staunen liess. «Gefahr im Verzug» erlaubt es den Ermittlern, auch ohne richterlichen Beschluss gewisse Ermittlungen vorzunehmen, wenn die Zeit drängt und /oder Verdunkelungsgefahr besteht, zum Beispiel bei Hausdurchsuchungen.

      «Nun, ich denke nicht, nein, Frau Zimmermann, keine Gefahr in Verzug.» «Also kein rambomässiges Eintreten der Türe. Auch recht. Ich organisiere Ihnen den Schlüsseldienst. Sie haben Glück: Hänni wohnt im Kappelenring, sein Auto habe ich vorhin vor dem Block stehen sehen. Bis er kommt, werden Sie bestimmt auch den Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft erhalten haben, womit dann alles seine Richtigkeit hätte, nicht wahr, Herr Moser?»

      «Durchaus, durchaus, Frau Zimmermann… Das ist auch ganz in unserem Sinn.»

      Während die Hauswartin mit ihrem Handy die Nummer des Schlüsseldienstes wählte und sich einige Schritte entfernte, schauten sich die beiden Kriminalisten belustigt an. Jeder dachte wohl das Gleiche: «Schade, haben wir es nicht immer mit solchen Leuten zu tun.» Silvia Zimmermann hatte sich übrigens nicht getäuscht: Sie kündigte den «Türöffner», wie sie den Mann nannte, «in fünf bis zehn Minuten» an.

      «Frau Zimmermann, was können Sie uns über Karl-Heinz Becker sagen?» «Nicht viel, ich kenne ihn ja nicht. Wohnt seit ungefähr einem Jahr hier. Und eines weiss ich noch, Herr Moser: Er fährt zurzeit einen blauen Nissan Skyline GTR, Jahrgang 2002. Steht in der Einstellhalle, Platz 202, kann man sich gut merken.»

      «Hoppla. Eine Legende von einem Auto. Sie kennen sich damit aus?» «Eher mein Mann Daniel, aber dann und wann bekomme ich etwas an Wissen ab… Übrigens, mir ist, Becker habe sich im Laufe der Zeit irgendwie verändert, vom Aussehen her, aber ich kann mich auch täuschen.»

      «Ich bleibe hier stehen, zumindest so lange, bis der Durchsuchungsbeschluss kommt», fügte Zimmermann an, was Minuten später der Fall war, praktisch gleichzeitig mit Erscheinen des «Türöffners» Hänni, der sich als Profi erweis. Nach lediglich gefühlten 20 Sekunden war die Türe offen, kein Schlüssel steckte von innen. Was die vier Leute zu sehen bekamen, verschlug ihnen die Sprache und vor allem den Atem.

      Ein eindeutiger Geruch von Verwesung schlug ihnen entgegen, der automatisch dazu führte, dass Hänni und Silvia Zimmermann zwei Schritte zurücktraten und ihre Hände vor Mund und Nase hielten, beide mit der entsetzten Frage, was denn