Wohlensee. Thomas Bornhauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bornhauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038182801
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zu tun, nicht mal mehr mit Provokation, das zeigt reine Aggression. Aber vielleicht helfen uns die Tattoos bei der Identifizierung. Gut möglich, dass Tätowierer hierzulande wissen, wer solche Motive sticht. Entschuldige den unprofessionellen Ausdruck, aber der Typ ist doch ein Psycho.»

      «War, Veronika … war ein Psycho. Sag mal, was ist mit der Kleidung? Irgendwelche Hinweise?»

      «Das musst du Iutschiin und Schöre fragen, sie haben das Zeugs bis auf die Shorts eingepackt. Auf den ersten Blick nichts Besonderes.»

      Joseph Ritter bedankte sich bei Veronika Schuler für den Zwischenbericht und verliess das Schutzzelt. Ihm fiel auf, dass auf der gegenüberliegenden Seeseite inzwischen viele Schaulustige zu sehen waren, zum Teil mit Feldstechern oder mit grossen Kameraobjektiven bewaffnet. Es würde, so vermutete er, also nicht mehr lange dauern, bis Ursula Meister zu ihrem ersten Medieninterview kommen würde.

      «So, Ritter, was lässt sich festhalten?», fragte Staatsanwalt Max Knüsel. «Wir haben einen Toten und viele offene Fragen», antwortete Ritter etwas schnippisch und ging dann gleich zu einem sachlichen Ton über: «Das IRM wird alles daransetzen, uns bis morgen Vormittag Erkenntnisse zu liefern. Möglicherweise werden auch die beiden Taucher, die im Einsatz sind, fündig. Was sicher ist: Morgen halten wir um 14.00 Uhr eine erste grosse Infositzung ab, es wäre gut, könnten Sie kommen, Herr Knüsel.»

      «Danke, Ritter, ich denke, das lässt sich machen. Allerdings muss ich mich jetzt für heute entschuldigen. Halten Sie mich einfach auf dem Laufenden, falls sich Aussergewöhnliches tut. Und sonst, wie gesagt, bis morgen», entgegnete der Staatsanwalt und lief ohne weitere Bemerkung zu seinem Auto.

      Bei dieser Gelegenheit kam Ritter wieder einmal in den Sinn, dass man allgemein wenig über die Person des Max Knüsel wusste. Unbestritten war er ein scharfsinniger Denker, ein möglicher Nachfolger des Generalprokurators, des Generalstaatsanwalts des Kantons Bern. Seine ungehobelte Ausdrucksweise indes brachte ihm jedoch immer wieder Kritik von Prozessbeobachtern ein, auch wenn er in letzter Zeit deutlich weniger Ausbrüche als früher hatte. Über sein Privatleben war so gut wie nichts bekannt, auch nicht über eine mögliche Partnerin oder Familie. Ich werde ihn bei passender Gelegenheit einmal direkt darauf ansprechen, dachte der Chefermittler, während er von weitem beobachtete, wie die beiden Herren des KTD dabei waren, flüssigen Gips in vorhandene Reifenspuren zu füllen.

      Ein Mann mittleren Alters stand auf der Plattform, ziemlich unbeteiligt am Geschehen rund um ihn herum. Ritter vermutete in ihm den Besitzer des Bootshauses, eine richtige Annahme, da dieser sich Sekunden später als Christian Lüthi aus Boll vorstellte. Lüthi erzählte Ritter davon, dass er kurz nach 7.30 Uhr ins Bootshaus gekommen sei, um die jährliche Generalversammlung des Vereins Bootshaus Freizeit vorzubereiten, die auf 11.00 Uhr angesetzt war.

      «Eine Generalversammlung an einem Sonntagmorgen, ist das nicht eher ungewöhnlich?»

      «Nun, Herr Ritter, meine sechs Vereinskollegen und ich sind keine typischen Kirchengänger, wir haben vor Jahren schon immer den letzten Sonntag im Januar für diese Versammlung reserviert – und dies noch auf Jahre hinaus.»

      «Und so eine Versammlung eines derart bedeutenden Vereins dauert bestimmt auch viele Stunden, nicht wahr?», witzelte Ritter, um eine lockere Gesprächsatmosphäre zu schaffen, worauf Lüthi die Türe aufschloss und ihn mit «Jaja, wir kommen aus Zeitdruck kaum dazu, den mitgebrachten Weissen zum Apéro zu trinken» in die gute Stube bat. «Stube» war in der Tat ein passender Ausdruck für den ungefähr 18 Quadratmeter grossen Aufenthaltsraum mit Sitzgarnitur, winziger Toilette und kleiner Küche ohne Strom und fliessendes Wasser. Die Wände waren mit Fotos von Hechten und anderen vergangenen Fischereierfolgen verziert. Eindeutig: Die Täterschaft hatte es überhaupt nicht auf das Haus abgesehen, die Türe wurde nicht aufgebrochen, dementsprechend fehlte im Innern auch nichts. Ritter und Lüthi traten Augenblicke später wieder auf die Plattform hinaus, von wo aus zwei Leute des IRM im Begriff waren, den Toten in einem länglichen Metallkörper in Richtung ihres Kleinlasters zu tragen, wobei sie im wahrsten Sinne des Wortes schwer zu tragen hatten. Sozusagen gleichzeitig mit dem Toten verabschiedete sich auch Veronika Schuler vom Fundort in Richtung Länggasse, Standort des IRM an der Bühlstrasse.

      Christian Lüthi, seines Zeichens IT-Spezialist, zeigte Joseph Ritter den vermuteten Weg der Täterschaft zum Fundort. Ritter bat ihn, die Informationen, die er loswerden wollte, noch schnell zurückzubehalten. Er rief die beiden Kollegen des KTD zu sich, damit sie sich ebenfalls mit möglichen Details vertraut machen konnten. Eine halbe Minute später stellte Lüthi seine Hypothese auf.

      «Auf unser Bootshaus stösst man nicht zufällig, man muss sich in der Gegend schon auskennen, um eine Leiche in den See zu werfen. Wurde der Mann eigentlich hier ermordet?»

      «Das wird Gegenstand unserer Ermittlungen sein, das hängt sehr stark auch von den Erkenntnissen der Rechtsmedizin und des KTD ab. Aber fahren Sie fort, bitte, Herr Lüthi.» Dieser zeigte daraufhin in Richtung der Böschung.

      «Eigentlich gibt es keinen anderen Weg zum Bootshaus als dieser schmale Weg, der im Winter aber immer vereist ist. Auch ich muss höllisch aufpassen, damit ig nid uf d’Schnure flüge. Meine Theorie: Anschliessend ist man von dort aus vermutlich in Richtung der Böschung am Haus vorbeigelaufen, hat den Mann getötet, worauf er in den See gefallen ist. Da die Strömung des Wassers auf unserer Seite des Sees verläuft, hat es die Leiche zum Bootsunterstand geschwemmt.»

      «Womit wir zur Mutter aller Fragen kommen», unterbrach Eugen Binggeli die Ausführungen des Bootshaus-Mitbesitzers, «weshalb haben Sie denn die Leiche überhaupt gefunden?»

      «Wie Herrn Ritter bereits mitgeteilt: Ich wollte die Generalversammlung unseres Vereins ordnungsgemäss vorbereiten, und da gehört es dazu, dass man vorher alles kurz inspiziert.»

      «Kann man gelten lassen», erwiderte Binggeli trocken, worauf sich die beiden Kriminaltechniker in Richtung Bootsunterstand aufmachten. «Iutschiin, schaut dann den Weg und die Böschung genau an, vor allem links und rechts, vielleicht ist da ja jemand umgefallen und hat Spuren hinterlassen.»

      Ritter wollte Geschichtliches zum Bootshaus in Erfahrung bringen. Christian Lüthi berichtete, dass 1934 acht Fischerkollegen beschlossen hatten, 130 Meter oberhalb der längst abgebrochenen alten Kappelenbrücke das Bootshaus und vier Schiffseinstellplätze zu bauen, was ein Jahr später auch realisiert wurde. 1938 kamen weitere vier Einstellplätze für Fischerboote dazu. Die Arbeiten hätten die acht Kollegen in ihrer Freizeit vorgenommen, um Geld für spätere Freizeitaktivitäten zu sparen. Heute sind einige der Mitbesitzer direkte Nachkommen jener Pioniere.

      Bootshaus-Mitbesitzer Christian Lüthi aus Boll.

      Gegen Mittag vermeldeten die beiden Taucher, dass sie beim Absuchen des Seegrunds zwar das eine oder andere gefunden hätten, keiner der Gegenstände schien aber einen Bezug zum Toten zu haben. Sicherheitshalber wurden drei Münzen, zwei Schlüssel und ein Sackmesser für den KTD in einen Beutel gesteckt.

      «Hoppla! Das Sackmesser gehört mir, es ist mir im Herbst ins Wasser gefallen», freute sich Lüthi, «Danke sehr.»

      Um 12.00 Uhr zeigte das Areal Auflösungserscheinungen, hatten die meisten Spezialisten doch ihre Arbeiten abgeschlossen, zumindest was den Fundort anbetraf. Das traf auch auf Christian Lüthi zu, der die angesagte Generalversammlung ausnahmsweise im Restaurant Bistro des Alterswohnheims Domicil Hausmatte in Hinterkappelen abhalten musste, sehr zum Erstaunen seiner Kollegen. Ursula Meister ihrerseits konnte die meisten Fragen der Medienschaffenden aus verständlichen Gründen noch nicht schlüssig beantworten, verwies deshalb auf eine voraussichtlich «morgen Montag um 16.00 Uhr stattfindende Medieninformation». Der Satz «Wir ermitteln in alle Richtungen, stehen erst am Anfang unserer Recherchen» fiel dabei einige Male. Einzig Eugen Binggeli und Georges Kellerhals blieben auf dem weiterhin abgesteckten Terrain zurück, noch immer auf der Suche nach möglichen Spuren. Zwei Kantonspolizisten stellen nach wie vor sicher, dass das Gelände nicht durch Unbefugte betreten wurde und mögliche Spuren vernichtet wurden.

      Joseph Ritter hatte sich kurz zuvor in Richtung seines Büros zur Vorbereitung der Sitzung