Wohlensee. Thomas Bornhauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bornhauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038182801
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den vermuteten Toten, Karl-Heinz Becker, oder wie auch immer. Die Aufnahme war auf der Rückseite mit «Im letzten Sommer» beschrieben und zeigte die drei Personen auf einem Schiff vor der St. Petersinsel im Bielersee, die bekanntlich nur noch eine Halbinsel ist. Das Foto fand Binggeli unter der Matratze versteckt.

      «Was Veronika uns noch verraten hat», sagte Binggeli, «ist, dass der Mann offenbar verschiedene Gesichtsoperationen hatte, was durchaus zu den nebulösen Umständen seiner Niederlassung via Fedpol passen könnte. Zeugenschutzprogramm.»

      «Das Chaos in der Wohnung, Stephan: Raubüberfall?»

      «Gabriela, schwer zu sagen, denn im ganzen Durcheinander liegen schon Sachen herum, die sich zu klauen gelohnt hätte. Weg sind auf den ersten Blick alle elektronischen Geräte. Ich denke, dass ein Rückschluss erst möglich sein wird, wenn uns die genaue Todesursache vorliegt. Ich beneide Veronika nicht, mit ihrem 26-Stunden-Tagesprogramm. Übrigens: Das Fenster im Schlafzimmer wurde eingeschlagen, möglich, dass der Mörder vom Garten in die Wohnung gelangt ist. Abklärungen laufen noch.» «Gabriela, kannst du uns einen Gefallen tun, damit wir keinen Kleiderwechsel vornehmen müssen?», meldete sich Stephan Moser zu Wort. «Klar doch.»

      «Auf Parkplatz 202 müsste ein Nissan Skyline stehen. Kannst du das husch checken?»

      «Der Wagen von Becker?»

      «Autsch! Jetzt habe ich mich geschnitten…»

      «Jaja, scho guet, Elias … Komm, Ursula, suchen wir Parkplatz 202.»

      Gerade, als die beiden Mediensprecherinnen sich in den Untergrund begaben, erschien Regula Wälchli kurz vor 15.00 Uhr auf der Bildfläche, bestens im Bild, was in den letzten drei Stunden in Hinterkappelen passiert war. Binggeli bat Wälchli, Silvia Zimmermann das Foto zu zeigen, verbunden mit der Frage, ob sie im einen der abgebildeten Herren Karl-Heinz Becker erkenne. Regula Wälchli schaute sich das Bild genauer an.

      «Iutschiin, du meinst den Mann rechts?»

      «Ja, genau, Veronika scheint sich fast sicher, dass das der Tote in der Wohnung ist.»

      «Und wer der Typ links ist, das willst du nicht wissen?»

      «Ich denke nicht, dass Frau Zimmermann das weiss, aber frag sie trotzdem mal.»

      «Es geht einfacher: Frag mich.»

      «Was? Frag mich?»

      «Der Herr links, der seinen Arm schützend um die Frau in der Mitte legt, das ist Maximilian Baron von Neippenberg.»

      Nach dieser Feststellung waren auch Stephan Moser und Elias Brunner ganz Ohr. Regula Wälchli zeigte sich erstaunt, dass keiner der vier Anwesenden – Moser, Brunner, Binggeli und Kellerhals – Maximilian Baron von Neippenberg kannten, zumindest von den Abbildungen in den Klatsch- und Hochglanzmagazinen her. Dem Schönheitschirurgen – korrekt: dem Facharzt für plastische Chirurgie – gehörten zwei Kliniken für die vornehmlich Reichen und Schönen, oder schön Erhaltenen, wobei der letzte Ausdruck individuelle Interpretationssache schien.

      Stephan Moser kam in dieser Situation seinem Ruf als Bürokalb nach: «‹Wie alt sind Sie denn, gnädige Frau?›, will der Schönheitschirurg von seiner neuen Patientin wissen. ‹Ich gehe auf die 60 zu.› – ‹Und aus welcher Richtung?›»

      «Sehr schön Stephan, sehr schön. Aber vielleicht verrät uns meine Verlobte noch ein paar pikante Details zu diesem Baron.»

      Regula Wälchli konnte aus dem Vollen schöpfen, obwohl sie angeblich nie die entsprechende «Fachpresse» las. Maximilian Baron von Neippenberg – niemand wusste so genau, ob er wirklich so hiess oder sich den Namen beim Titelhändler Konsul Weyer erkauft hatte –, besass zwei Schönheitskliniken, beide mit dem Namen «Venus – Clinique de Beauté», eine in Berlingen in der Nähe von Steckborn am Bodensee, die andere oberhalb von Twann, nahe bei Prägelz – französisch: Prêles –, ganz in der Nähe der Twannbachschlucht, wo Friedrich Dürrenmatt einst den schrägen Kommissär Hans Bärlach aus Bern den mysteriösen Mord an seinem fähigsten Polizeibeamten Ulrich Schmid aufklären liess. Baron von Neippenberg – sein persönliches Logo, edel auf seinem weissen Kittel aufgestickt, las sich als BvN – zeigte sich gerne als Mann von Welt, am liebsten mit bekannten Grössen aus dem Showbiz und der Politik. Überlegung: «Deren Glanz färbt auch auf mich ab.» Die Klinik an der Route de Prêles befand sich in einem ehemaligen Herrschaftshaus mit grossem Park samt altem Baumbestand. Die Aussicht auf den Bielersee war atemberaubend. Besonders auffällig, so Regula Wälchli: BvN liess sich oft mit teuren Autos abbilden, auch mit Oldtimern. Viele ähnliche Modelle seiner Kundschaft verschiedener Hersteller standen jeweils vor der Klinik, ein Hinweis darauf, dass seine Behandlungen preislich vermutlich nicht ganz der M-Budget-Linie entsprachen.

      «Ich zähle mal eins und eins zusammen», überlegte Moser laut, «wenn unser Toter Karl-Heinz Becker ist und verschiedene kosmetische Gesichtsoperationen hinter sich hatte, dann passt das doch bestens mit der beruflichen Tätigkeit des Barons zusammen.»

      «Schade, habe ich das nicht vorher gewusst, sonst hätte ich von Magglingen aus direkt nach Prêles fahren können», konstatierte die Frau im Team, während sie auf ihre Uhr schaute und die Herren fragte, ob sie nochmals losfahren solle.

      «Nein, Teuerste, dem Baron kannst du morgen einen Besuch abstatten, so er denn nicht in Mostindien ist. Heute müssen wir versuchen, hier mit so vielen Nachbarn wie möglich zu reden, damit wir morgen früh das weitere Vorgehen mit J. R. absprechen können.»

      «Gut so, mein edler Ritter und Beschützer, aber nach meinem Kontakt mit dieser Frau Zimmermann rufe ich schnell in der Clinique in Prêles an, in der Hoffnung, Durchlaucht sei morgen dort.»

      «Von mir aus kannst du ihn auch ‹Durchlocht› nennen, ihn einfach nicht als ‹Baron von Merkwürden› oder ‹Your Madness› ansprechen», bemerkte Stephan Moser abschliessend.

      Gabriela Künzi und Ursula Meister waren inzwischen fündig geworden, zumindest was PP 202 betraf, der Skyline GTR jedoch war weit und breit nicht zu sehen, auch auf anderen Abstellplätzen der Einstellhalle nicht. Stephan Moser erkundigte sich deshalb bei den Kollegen vom KTD, ob sie im Chaos irgendwelche Schlüssel gefunden hätten, die möglicherweise zum Kultauto passten. «Nein, bis jetzt jedenfalls nicht», rief Schöre Kellerhals aus der Ferne des Wohnzimmers. Wo aber war der Skyline?

      Nur einige Minuten später kehrte auch Regula Wälchli zum Tatort zurück mit der Mitteilung, dass Frau Zimmermann den Mann rechts auf dem Foto als Karl-Heinz Becker erkannt hatte, wobei er auf der Aufnahme «im Gesicht anders» aussehe als vor zwei Wochen, als sie ihn zum letzten Mal gesehen habe. Beim zweiten Mann und der Frau hingegen habe sie den Kopf geschüttelt. Derweil sich die beiden Medienreferentinnen in Richtung Innenstadt zur Pressekonferenz verabschiedeten, wurde der Tote von Spezialisten in einen Kunststoffsack gelegt und in einem Metallbehälter weggetragen. Veronika Schuler und ihre Assistentin, letztere noch immer bleich, folgten den beiden Männern, die wenig später zum IRM abfuhren, die beiden Rechtsmedizinerinnen hinterher.

      Während die drei Ermittler sich auf die Suche nach möglichst auskunftsfreudigen Nachbarn machten, blieben Eugen Binggeli und Georges Kellerhals in der Wohnung zurück, die vom Geruch und der Temperatur her nur langsam wieder annehmbare Aufenthaltsbedingungen bot. Das Durcheinander war nach wie vor total.

      Am frühen Abend erreichte Elias Brunner – der seinerseits seinen Chef auf dem Laufenden hielt – der Bescheid von Georges Kellerhals, dass man auf Anhieb noch keine tatrelevanten Spuren habe sicherstellen können und die Arbeit jetzt bewusst bis zum Zeitpunkt der Ergebnisse aus dem IRM unterbreche, um abhängig von den Todesumständen gezielt suchen zu können. Zweifel bestanden auch in Zusammenhang mit dem eingeschlagenen Fenster im Schlafzimmer, waren doch im Rasen keinerlei Fussabdrücke feststellbar. Wie aber waren der oder die Täter in die Wohnung gekommen?

      Einen Durchbruch bei den Ermittlungen gab es nach den Befragungen der Nachbarn nicht wirklich. Niemand kannte Karl-Heinz Becker näher, zumal er erst seit knapp einem Jahr im Kappelenring gewohnt hatte. Becker sei ein «Einzelgänger» gewesen, meinte einer, «wenig gesehen worden». Eine Frau wiederum, deren Gatte in einer Garage arbeitete, wunderte sich zusammen mit ihrem Mann, dass