Gott und die anderen Großen. Ernst Peter Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Peter Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783831257294
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Geheimnisvolle Gesetze

      Bekanntlich findet Kepler im Laufe seines weiteren Lebens drei Gesetze dieser Art, wobei sich die genannte Zahl nicht nur in die christliche Harmonie fügt, sondern auch zu einem besonderen Erlebnis von Kepler führt.

      Tatsächlich findet er zunächst zwei Gesetze für die Bewegung der wandernden Himmelskörper, von denen das erste allgemein für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens von größter Bedeutung ist. Es stellt den Abschied von kreisförmigen Planetenbahnen am Himmel dar und verkündet, dass zum Beispiel die Erde die Sonne auf einer Ellipse umläuft.

      Kepler erkennt die außerirdische Realität dieser geometrischen Figur mit Hilfe von langwierigen Beobachtungen der Marsbahn und sich nahezu ewig hinziehenden Berechnungen, wobei diese quantitative Akribie erkennen lässt, dass hier neben dem religiösen Eiferer auch ein streng der Empirie verpflichteter Wissenschaftler heutiger Prägung am Werk ist, was Kepler unmittelbar als Mittler zwischen der mittelalterlichen und der modernen Welt erkennen lässt. Er steht und wirkt wahrlich am Beginn der Neuzeit, wie man auch sagen kann und was zeigt, dass an seinem Beispiel noch mehr zu lernen ist – unter anderem die Tatsache, dass seine große Entdeckung von Planeten, die auf Ellipsen unterwegs sind, nicht zum Ende einer Untersuchung führt, sondern im Gegenteil einen neuen Anfang erzwingt. Aus dem folgenden Grund:

      Solange die Planeten kreisförmig von außerirdischen Himmelssphären bewegt wurden, solange fragte niemand nach der Kraft, die dafür nötig war. Die Götter hatten es auf diese perfekte Weise so eingerichtet, und mehr war da für Menschen nicht zu wissen und zu wollen.

      Indem Kepler die Kreise abschaffte und durch Ellipsen ersetzte, kam er zwar wissenschaftlich gesehen der Wahrheit am Himmel näher, musste aber dafür einen Preis zahlen. Er bestand in der Verpflichtung, eine Antwort auf die Frage zu geben, wer oder was für die gefundene geometrische Form zuständig ist und die nötige Kraft dafür liefert. Kepler sah das Problem, kam aber nicht auf die Lösung, die noch ein knappes Jahrhundert auf sich warten lassen musste, und zwar solange, bis Sir Isaac Newton in England die Bühne der Wissenschaftsgeschichte betrat, wie in dem dazugehörigen Kapitel genauer geschildert wird.

      An dieser Stelle kann die Situation aber bereits benutzt werden, um einen wesentlichen Zug von naturwissenschaftlichen Fortschritten deutlich zu machen, der gerne übersehen oder missachtet wird. Gemeint ist das Phänomen, dass Kepler zwar der Wahrheit über die Planetenbahnen – ihrem richtigen und tatsächlichen Verlauf – näher gekommen ist, aber nur dadurch, dass er das Geheimnis ihres Wanderns nicht verkleinert, sondern im Gegenteil vergrößert hat. Die Planeten können Menschen ebenso verzaubern wie die Ellipsen, auf denen sie ihre Bahnen ziehen, und jedes dazugehörige Gesetz bringt mehr Gelegenheit zum Staunen.

      Dazu reicht ein Blick auf das zweite Gesetz, das Kepler findet und welches heute als „Flächensatz“ bekannt ist. Es meint das Folgende:

      Wenn man sich vorstellt, der umherziehende Planet sei mit einem Bindfaden an der Sonne befestigt und dann schaut, welche Fläche er während der Bewegung überstreicht, kommt man seit Kepler zu dem Ergebnis, dass in gleichen Zeiten gleiche Flächen erfasst werden. So lautet auch sein zweites Gesetz für die Planetenbewegung, über das man ruhig staunen und bei dem man sich fragen darf, wer das Räumliche und Zeitliche so eng verweben und das dazugehörige Gebilde unsichtbar sichtbar um uns legen konnte.

      Nachdem Kepler den Flächensatz gefunden hatte, gab es viel anderes zu erledigen. So sollte es noch einige Jahre dauern, bis Kepler sich erneut „der Betrachtung himmlischer Harmonien“ widmen konnte, wie er in seiner Weltharmonik von 1619 schreibt. Dabei erkannte er nicht nur, „worin bei den Bewegungen der Planeten vom Schöpfer die harmonischen Proportionen ausgedrückt sind“, er konnte seinen Einsichten nun sogar eine elegante mathematische Form geben, die heute als „drittes Gesetz“ von Kepler bekannt und berühmt ist.

      Der gläubige Astronom fand nämlich nach langem und mühevollem Umgang mit massenhaft vielen Zahlen, dass die Umlaufzeiten der Planeten (T) und ihr mittlerer Abstand zur Sonne (A) zusammenhängen, und zwar so, dass das Verhältnis aus den Quadraten der Umlaufzeiten (T2) und den Entfernungen zur dritten Potenz erhoben (A3) für alle Planeten gleich und damit konstant ist. T2/A3 ist eine feste Größe am beobachtbaren Himmel, wie Kepler feststellte.

      Wenn das viele gläubige oder ungläubige Menschen heute nicht mehr unbedingt vom Hocker reißt, so sollten sich wenigstens einige von ihnen durch etwas anderes verblüffen lassen, nämlich durch Keplers unbeschreibliche Freude, die ihn erfasste, als er das dritte Gesetz erkannte und vor sich sah.

      In seinen Mitteilungen dazu bekennt er offen, „Ich überlasse mich heiliger Raserei.“ Ich stelle mir dabei vor, wie fröhlich, vergnügt und ausgelassen der kleine Mann durch seine Räume oder über die Straßen seiner Stadt gehüpft ist, um jubelnd in die Hände klatschend seine astronomische Erkenntnis des göttlichen Weltenplans zu feiern. Wahrscheinlich hätte er am liebsten alle Menschen umarmt, die in seiner Nähe und bei drei nicht auf irgendwelchen Bäumen waren. Solch eine unbändige Begeisterung und ihre Schilderung zieht unmittelbar eine spannende Frage nach sich: Warum kann sich heute kein Wissenschaftler mehr auf ähnliche Weise freuen und durch Einsichten in die Abläufe der Natur berauschen lassen? Selbst Staunen scheint ein Fremdwort im Bereich der Forschung geworden zu sein, obwohl Keplers heilige Raserei ausreichend Anlass dazu geben könnte.

       Staunen heute

      Wenn oben gesagt wurde, dass inzwischen „kein Wissenschaftler“ mehr unbändig über eine Entdeckung jubelt und ausgelassen feiert, dann erfasst diese Feststellung mehr den Eindruck, den die Öffentlichkeit von der Forschung hat und den sie in den Medien serviert bekommt. In der hier vorgeführten Wissenschaft geht alles sachlich und korrekt und damit eher langweilig vor sich. Selbst wenn dort das Fest des Nobelpreises gefeiert wird, agieren die Ausgezeichneten eher steif und brav. Vermutlich kann sich heute niemand mehr einen Wissenschaftler wie den Griechen Archimedes vorstellen, der beim Einsteigen in eine Badewanne das überlaufende Wasser bemerkte. Diese Beobachtung half ihm zuerst, ein äußerst drängendes Problem zu lösen, und löste danach eine derartige Jubelstimmung in ihm aus, dass er nicht an sich halten konnte und nackend durch die Straßen lief, um allen dort umherlaufenden Menschen sein „Heureka“ zu verkünden – „Ich habe es gefunden!“, nämlich die Lösung der Frage, wie man das Volumen eines kompliziert gestalteten Kunstwerks – einer Krone in diesem konkreten Fall – ermittelt, ohne sie zu beschädigen.

      „Ich konnte gut nachvollziehen, wieso Archimedes so aus dem Häuschen geraten war“, so Jeanette Walls in ihrem Buch Das ungezähmte Leben, das aus der Perspektive eines Mädchens erzählt wird, die folgende Erfahrung gemacht hat: „Es gab doch nichts Schöneres als dieses Gefühl, das einen überkam, wenn es „klick“ machte und man plötzlich etwas begriff, das einem ein Rätsel gewesen war. So schöpfte man Hoffnung, dass es vielleicht doch möglich war, diese gute alte Welt in den Griff zu bekommen.“

      Die gesamte öffentliche Einstellung zum Vorgehen der Wissenschaft könnte sich ändern, wenn die Freude erwähnt wird, die mit dem Erkennen verbunden ist. Sie kann sowohl einem kleinen Mädchen ein herrliches Gefühl liefern als auch den großen Kepler in heilige Raserei versetzen. Sie hat im 20. Jahrhundert den französischen Biologen François Jacob und seinen aus Südafrika stammenden Kollegen Sydney Brenner dazu gebracht, „wie zwei Verrückte einen wilden Freudentanz“ aufzuführen, nachdem ihnen ein eleganter Einblick in das Funktionieren des genetischen Apparates einer Zelle gelungen war.

      Gott muss doch ganz in der Nähe gewesen sein, wenn sich Menschen so unbändig darüber freuen, dass sie mit ihren geistigen Mitteln etwas von seiner Schöpfung verstehen können. Zumindest Keplers Gott wird bei dem Blick auf die tanzenden Forscher Wohlgefallen gefunden haben. Keplers Gott hat nämlich zum einen dafür gesorgt, dass die Welt durch ihre Schönheit den Menschen zugänglich ist. Und er hat seine sterblichen Ebenbilder ermutigt, ihr Wissen mit seiner Hilfe – mit seinen uns eingepflanzten Urbildern – zu erwerben und vermehren. Auf diese Weise wird Wissenschaft genau zu dem Gottesdienst, den Kepler in seinem astronomischen Tun gesehen und täglich praktiziert hat. Er muss sich trotz aller finanziellen Not dabei glücklich gefühlt haben.