Goethe hätte dem in Gretchen verliebten und neugierigen Faust als Antwort doch auch die Worte in den Mund legen können: „Und du, was hältst du von der Wissenschaft?“ Solch eine Wendung hätte durchaus in das Zeitalter der Aufklärung gepasst, dem der Dichter im ausgehenden 18. Jahrhundert angehörte und in dem das Hohe Lied der Rationalität nicht nur vorsichtig angestimmt, sondern auch gerne und laut gesungen wurde.
Der Schöpfer von Faust unternimmt in dem dazugehörigen Drama dafür etwas anderes. Er lässt seinen Helden dem umschwärmten Gretchen nahe bringen und klarmachen, dass es neben Gott etwas anderes von Bedeutung gibt, nämlich all das, was sich in dieser Welt zeigt und eine besondere Qualität aufweist, wie er erläutert. Denn was es – im Himmel und auf der Erde – gibt, drängt von sich aus massiv zu dem geliebten Fräulein hin, und zwar so, dass es „Haupt und Herz“ von Gretchen zugleich erfasst und ihre Person wie ein Gewebe umfängt, das dabei eine Eigentümlichkeit an den Tag legt, nämlich „in ewigem Geheimnis unsichtbar sichtbar“ neben ihr zu sein, wo es dann sogar weiter „webt“.
Mit anderen und eher trockenen Worten: Faust empfiehlt Gretchen, sich erst von ihrem sinnlichen Wahrnehmen des rätselhaft bleibenden Gewebes namens Wirklichkeit seelisch erfüllen zu lassen und dabei auf die Beeinflussung ihrer Gefühle zu achten, um sich schließlich danach voller Neugierde zu fragen, wie sie das nennt, was sie bei diesem Vorgang des Erkennens erfährt und erlebt:
„Glück! Herz! Liebe! Gott!“ – so lauten die vier zum Teil sicher unkonventionellen Vorschläge von Goethes Helden, der anschließend – hoffentlich zu seiner Überraschung – von Gretchen zu hören bekommt:
„Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen anderen Worten.“
An dieser Stelle lacht das Publikum gewöhnlich, vor allem mit dem Blick auf den Teufel Mephisto, der sich in der Nähe herumtreibt und nun grollt. Doch es lohnt sich, Goethes Witz ernst zu nehmen, weshalb hier versucht wird, in den einfachen Worten eines Sachbuchautors zwei zentrale Punkte des eben skizzierten poetischen Dialogs darzustellen, die im Verlauf des Buches verfolgt werden sollen. Da ist zum einen die An- und Einsicht von Faust, dass das sich uns aufdrängende Gewebe der Dinge um uns ein „ewiges Geheimnis“ bleiben wird, und zwar trotz aller Fortschritte, die wir nicht zuletzt den Großen der Wissenschaft verdanken, die folgend im Text vorgestellt werden. Und wenn es um diese offenen Geheimnisse und ihre Vorstellung geht, dann – dies zum Zweiten – klingt selbst der Faust wie ein Pfarrer, auch wenn sich der Gelehrte längst der Magie ergeben und mit dem Teufel verbündet hat.
Kurzum: Der Frage nach Gott entkommt man im deutschen oder europäischen Sprachraum nicht, auch wenn sich bei vielen Großen des Wissens in ihrem Inneren nicht unbedingt ein besonderes Gefühl regt, wenn der Name des Größten fällt. Auch sie glauben, bevor sie wissen.
Die Frage lautet, was sie glauben, nachdem sie etwas wissen. Mal sehen.
„Wir haben’s schwer. Denn wir wissen nur ungefähr, woher, jedoch die Frommen wissen gar, wohin wir kommen! Wer glaubt, weiß mehr.“
Erich Kästner, „Eine Feststellung“
Ernste Fragen am Anfang
Am Anfang steht das Problem des Anfangs. Beim Schreiben einer Rede oder eines anderen Textes geht es zum Beispiel um den ersten Satz, mit dem der zu liefernde Beitrag eröffnet wird und der die Aufmerksamkeit zu wecken hat. Doch diesen Einstieg habe ich an dieser Stelle bereits geschafft und hinter mir.
Dieser Anfang war offenbar leicht. Das genannte Problem stellt sich aber und erst recht beim Erkennen und Verstehen – etwa von Licht und Farben und anderen Erscheinungen – in dem, was als Wirklichkeit bezeichnet wird und uns – nach Goethe – wie ein geheimnisvolles Gewebe umgibt, das wenig empfindsame Zeitgenossen als Vernetzung beschreiben, was unnötig hart klingt.
Das Problem des Anfangs beim Erkennen besteht darin, dass der Einstieg, der erste Schritt zum Wissen, nichts von dem enthalten darf, was am Ende der Erklärung herauskommen soll. Das klingt zwar banal, macht aber mehr Mühe, als viele meinen. Bereits im vierten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung hat sich der Mönch Dionysius gefragt, wie man einen Anfang schaffen kann. „Die erste Ursache von allem ist weder Sein noch Leben. Denn sie ist es ja gewesen, die Sein und Leben erst erschaffen hat. Die erste Ursache ist auch nicht Begriff oder Vernunft. Denn sie ist es ja gewesen, die Begriffe und Vernunft erschaffen hat. […] Und dennoch ist diese erste Ursache auch keine Macht. Denn sie ist es ja, die die Macht erst erschaffen hat.“
Wer zum Beispiel als Physiker erklären will, was Materie ist und woraus sie besteht, darf nicht mit Atomen anfangen, die aus Einheiten bestehen, die selbst schon Materie sind, weil sie über eine Masse verfügen.
Natürlich kann die Physik die Eigenschaften eines Metallstücks dadurch verstehen, dass sie das Zusammenspiel von vielen Metallatomen berechnet, aber wann und wie aus den unsichtbaren Bausteinen der sichtbare Körper wird, den man in die Hand nehmen und vermessen kann, bleibt dabei offen – und solch ein Übergang liefert möglicherweise einen konkreten Fall für das ewige Geheimnis, von dem Faust spricht.
Wer als Philosoph erklären will, was Rationalität ist und wie das dazugehörige Erkennen funktioniert, darf nicht mit einer Sammlung aus abzählbaren Kategorien beginnen, die dann bloß noch kombiniert zu werden brauchen. Wer das Denken erklären will, muss mit einer anderen Fähigkeit des Gehirns beginnen, etwa dem konstruktiven Wahrnehmen oder einem malenden Schauen, wie es der Physiker Wolfgang Pauli einmal vorgeschlagen hat, von dem noch ausführlich die Rede sein wird.
Fragen nach dem Anfang
Nun gehört das Fragen nach dem Anfang sowohl zu den Grundthemen der Wissenschaft als auch zu den sicher uralten und prähistorischen Interessen von Menschen. Wie hat die Welt angefangen? Wie ist das Leben entstanden? Wie hat der erste Mensch ausgesehen? Wie hat die Sprache angefangen? Und in allen Fällen gilt es beim Antworten unter allen Umständen zu vermeiden, etwas von dem zu verwenden, was man erklären und seinen Beginn nehmen lassen will.
Es wird deshalb vorausgesetzt, dass Menschen sich schon sehr früh in ihrer Geschichte Gedanken über den Anfang und anderes gemacht haben, weil es zu den humanen Eigentümlichkeiten gehört, so etwas und mehr wissen zu wollen. Diese Feststellung ist bei Philosophen seit Jahrhunderten nachzulesen und bleibt unbestritten. Aristoteles etwa beginnt seine Metaphysik mit der Feststellung, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, und wenn Immanuel Kant drei Fragen formuliert, die es zusammen ermöglichen sollen zu sagen, was der Mensch ist, dann interessiert ihn vor allem: „Was können wir wissen?“
Natürlich zitieren Lehrer und andere Bildungsbürger an dieser Stelle gerne den sagenhaften Sokrates und sein Verdikt: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Aber zum einen weiß ich, von wem der berühmte und vielfach falsch zitierte Satz stammt, in dem nicht von „nichts“ die Rede ist, und zum Zweiten hindert selbst diese Einsicht den Philosophen ja nicht daran, etwas wissen zu wollen, und zwar unentwegt und immer wieder, wie die zahlreichen Dialoge verdeutlichen, die uns von ihm dank Platon überliefert sind.
Zum Dritten kann das „Nichtwissen“ auch so verstanden werden, wie es Goethe ausdrückt, nämlich als das offene Geheimnis, das unsichtbar in den sichtbaren Dingen steckt und sowohl dem ersten Nachdenken kein Ende bietet als auch dem weiteren Wunsch nach Wissen jede Menge Platz lässt.
Menschen wollen und können also wissen, und sie wollen in vielen Fällen wissen, wie etwas von ihnen Vorgefundenes angefangen hat – besonders das Ganze, „das Etwas, diese plumpe Welt, das sich dem Nichts entgegen stellt“, wie es Goethe genannt hat.
Dies gefällt als Formulierung, ruft aber zugleich auch ein Dilemma hervor. Wenn Menschen nämlich den Anfang aller Dinge – der Welt, des Kosmos, des Universums – erklären wollen, müssen sie der poetischen Einsicht nach entweder mit (einem) Nichts oder mit einem Konzept anfangen, das nicht von dieser Welt sein kann.
Natürlich kommt für sterbliche Wesen ohne himmlische Schöpferqualitäten nur