3. Eine weitere natürliche Folge der Grundhaltung der Gestalt-Psychotherapie ist die Haltung, mit der der Therapeut die scheinbar unerwünschten Aspekte der Persönlichkeit des Patienten betrachtet. Der Gestalttherapeut ist im besten Fall gleichermaßen aufgeschlossen für die impulsive Natur des Patienten wie für seine Verteidigungsstrategien. In beiden sieht er Energien, die auf destruktive Weise wirken, wenn sie im Dunkel bleiben, aber im Gewahrsein ihren konstruktiven Ausdruck finden. Um sagen zu können, daß es für den Therapeuten ausreichend ist, das Gewahrsein seines Patienten zu erhöhen sowie seine Präsenz und seine Verantwortung zu unterstützen, zu sagen, daß diese drei Dinge für uns genügen, um zu ganzen Menschen zu werden, erfordert ein Grundvertrauen in das Gutsein unserer Natur. Wenn dieses Vertrauen gegeben ist, bedarf es auch keiner weiteren Manipulationen, weder für uns selbst noch für andere, um unsere „gute Natur“ zu erhalten und die Katastrophe des Chaos oder der Zerstörung zu vermeiden. Der Gestalttherapeut geht davon aus, daß solche Manipulationen nicht nur überflüssig und eine Vergeudung unserer Energien sind, sondern auch destruktiv wirken, denn sie entfremden uns von dem, was wir sind, erzeugen inneres und äußeres Unwohlsein und führen zu einem Bedürfnis nach noch mehr Manipulationen, um das Elend zu vermeiden und die innere Leere zu füllen.
Wenn man sagt, daß der Gestalttherapeut auf das Gutsein der menschlichen Natur vertraut, heißt das jedoch nicht, daß er auf ausschließliche Authentizität als einen reibungslosen und schmerzfreien Zustand baut. Wie Fritz Perls sagte: „Alles, was ich überhaupt tun kann, ist, den Menschen zu helfen, mit sich ins Reine zu kommen, um besser zu funktionieren, sich des Lebens mehr zu erfreuen, zu empfinden und – das ist sehr wichtig – sich wirklicher zu fühlen. Was willst du mehr? Das Leben besteht nicht nur aus Geigen und Rosen.“
Der Gestalttherapeut sagt nicht etwa, daß Aggression nicht zerstört und verletzt, sondern daß ein gewisses Maß von Aggression zur Funktion unseres Organismus gehört und daß dieses aggressive Potential, wenn es nicht erkannt, sondern unterdrückt, abgelehnt oder verzerrt wird, wahrscheinlich zu verstärkter Destruktivität und persönlichem Unglück führt. Folglich ist die Arbeit des Gestalttherapeuten in einem hohen Maß gekennzeichnet durch das Ausmaß, mit dem er explosives Verhalten ermuntert, aggressiv oder anderweitig. Er fürchtet keine extremen Gefühle noch den Verlust der Kontrolle, sondern sieht diese im Gegenteil als Gelegenheiten für das erforderliche Gewahrsein der Impulse und dafür, daß der Patient die Verantwortung für sie übernimmt und sie als Teil seines Wesens akzeptiert.
Was für den Ausdruck von Impulsen gilt – insbesondere den von Wut – gilt gleichermaßen für den Ausdruck von Beherrschung. Die Gestalttherapie sieht innere Widerstände nicht als etwas an, was zerstört werden sollte, sondern als eine weitere Aktivität, der es sich bewußt zu werden und für die es die Verantwortung zu übernehmen gilt. Verteidigungsstrategien sind nicht etwas, was uns geschieht und von denen uns jemand befreien könnte, sondern etwas, was wir tun. Wir können uns entscheiden, ob wir damit weitermachen oder nicht, entsprechend der Bewertung unser Bedürfnisse und der jeweiligen Situation. Wie im Judo oder beim Tai Chi Chuan besteht die Haltung des Gestalttherapeuten darin, den Patienten zum Gebrauch der Energien anzuleiten, denen er sich ansonsten entgegenstellt. Um dies zu tun, muß er erst einmal mit dem, was er bekämpft, mit seinem „Gegner“, in Berührung kommen: er muß auf ihn hören, sehen, worum es sich handelt. Irgendwann wird er erkennen, daß es gar keinen „Gegner“ gibt.
4. Die Haltung des Gestalttherapeuten zeigt sich ebenfalls dadurch, daß er Erklärungen, Interpretationen, Rechtfertigungen und Begriffsbildungen im allgemeinen ablehnt. Die Ableitung dieser Einstellung aus dem, was ich die „Grundhaltung“ nenne, ist leicht ersichtlich, wenn wir bedenken, daß wir, wenn wir über etwas sprechen, uns sogleich außerhalb unserer direkten Erfahrung des Besprochenen stellen.
Rechtfertigungen entspringen gewöhnlich einem Mangel an Selbstakzeptanz – zumindest im Moment der Rechtfertigung – was enthüllt, daß die Person es bevorzugt, ihr unangenehmes Erleben zu vermeiden, indem sie äußere Anerkennung sucht. Ein Gestalttherapeut würde eine solche Person als erstes dazu anhalten, von ihrem Erleben Besitz zu ergreifen, statt ein gesellschaftliches Spiel zu treiben. Darüberhinaus könnte er dem Patienten helfen, für seine Selbstanklage die Verantwortung zu übernehmen oder, falls diese ein Phantom sein sollte, sie im Gewahrsein aufzulösen und sich selbst mit seinem Tun zu versöhnen. Erklärungen beruhen gewöhnlich auf demselben emotionalen Grund wie Rechtfertigungen. Hinter den meisten „Warums“ steckt das unausgesprochene Echo der elterlichen Warnung: „Wenn du deine Reaktion – oder deine Handlung – nicht erklären kannst, dann hast du kein Recht darauf.“ Diese Art Erklärung könnte als Rechtfertigung der Gründe gesehen werden, statt einer Rechtfertigung der Absichten und Ziele oder der extrinsischen Maßstäbe. Rechtfertigungen, seien sie vergangenheits- oder zukunftsbezogen, auf Gründe oder Ziele orientiert, sind Versuche, den Ist-Zustand auf eine Erfahrung außerhalb der Gegenwart zurückzuführen. Für den Gestalttherapeuten gibt es keine Realität außer dieser, hier und jetzt. Das, was wir hier und jetzt sind, anzunehmen, heißt, Verantwortung für das zu übernehmen, was wir sind. Es nicht zu tun, würde bedeuten, eine Illusion, die größer ist als die Realität, zum Götzen zu machen.
Die Gestalttherapie hat im Gegensatz zur Psychoanalyse wenig zur dynamischen Interpretation psychopathologischer Phänomene hinzuzufügen. Sie ist mehr Therapie als Theorie, mehr Kunst als psychologisches System. Dennoch hat die Gestalttherapie durchaus eine philosophische Grundlage. Die oben beschriebenen Grundhaltungen sowie ihre dreifache Prämisse bilden eine philosophische Basis der Gestalttherapie. Mehr noch: Die Gestalttherapie beruht auf einer impliziten philosophischen Orientierung, die vom Therapeuten an den Patienten oder den Auszubildenden ohne die Notwendigkeit weiterer Erläuterungen weitergegeben wird. Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, daß die Erfahrung und Übernahme solcher impliziten Weltsichten ein verborgener Schlüssel für den therapeutischen Prozeß sind. Dies führt zu der Überzeugung, daß eine spezifische Lebensphilosophie der Hintergrund der Gestalttherapie ist, ebenso wie eine spezifische Psychologie zur psychoanalytischen Therapie gehört.
Die Übertragung der Haltungen wie die oben beschriebenen durch den Gebrauch der Werkzeuge, die für die Gestalttherapie charakteristisch sind, kann mit dem Prozeß verglichen werden, durch den ein Bildhauer mit den Werkzeugen seiner Kunst eine Form gestaltet. In beiden Fällen transzendiert der Inhalt die Werkzeuge, obwohl diese eigens für diesen Ausdruck konzipiert wurden. Unglücklicherweise ist es eine unserer menschlichen Schwächen, darauf zu vertrauen, daß Formeln und Techniken alles für uns leisten können. Diese immerwährende Versteinerung der Wahrheit in starren Formeln können wir in der Geschichte aller Kulte und Sekten beobachten.
Wenn ich die Philosophie der Gestalttherapie „implizit“ nenne, sage ich nicht, daß sie wie in der Psychoanalyse „verdeckt“ ist. Sie ist einfach implizit, was auf die Natur ihres Gehalts zurückzuführen ist: Der Gestalttherapeut legt mehr Wert auf Taten als auf Worte, auf Erfahrungen statt Gedanken. Er vertraut auf den lebendigen Prozeß der therapeutischen Interaktion und den inneren Wandel, der daraus resultiert, statt auf die Beeinflussung der Überzeugungen. Handeln zieht Substanz nach sich und berührt sie. Ideen sind flüchtig und können leicht die Realität verdecken oder sie sogar ersetzen. Nichts könnte der Gestalttherapie ferner liegen als zu predigen. Dennoch beinhaltet sie eine Art Überzeugungsarbeit, frei von Befehlen und Glaubenssätzen – so, als würde ein Künstler seine Weltsicht und seine Orientierung bezüglich des Seins durch seinen Stil zum Ausdruck bringen.
Ideen sind als Ersatz für echte Erfahrungen ebenso gefährlich wie Techniken, denn sie sind durch ihre Klarheit und ihre deutlichen Grenzen für uns verführerisch. Wir sind geneigt, in die „magische“ Falle der Gleichsetzung von Wissen und Sein, Verständnis und Handeln, Äußerung und Wirkung zu gehen. Dennoch haben wir nichts als Ideen und Techniken, und wir müssen akzeptieren, daß das, was uns dient, uns ebenso in den Schlaf führen und unseren Platz einnehmen kann.
Moral jenseits von Gut und Böse
„Gut“ und „Böse“ sind für den Gestalttherapeuten verdächtige Begriffe, denn er ist gewöhnt, die meisten menschlichen Handlungsanweisungen als subtile Manipulationen zu sehen, ebenso, wie er Diskussionen über moralische Themen als Selbstrechtfertigungen und