Wenn wir lernen, mitfühlend zu sein, lernen wir gleichzeitig, weniger selbstbezogen, eifersüchtig und konkurrenzorientiert zu sein und uns mehr auf unser Wohlergehen und das aller anderen Wesen zu fokussieren. Wenn wir aus einer mitfühlenden Haltung heraus handeln, aus dem Wunsch, alle Wesen mögen glücklich und frei von Leiden sein, sind wir eher in der Lage, fürsorglich mit uns selbst und anderen und der Welt umzugehen.
Die meisten Menschen sind im Alltag eingespannt und denken, sie hätten weder den Raum noch die Zeit, Mitgefühl zu praktizieren. Doch selbst in stressigsten Phasen können wir Mitgefühl in unser Leben bringen. Mitgefühl zu kultivieren bedeutet nicht, dass wir unserem Leben noch etwas hinzufügen müssen, es bedeutet, dass wir etwas ändern: nämlich unser Verständnis für und unseren Umgang mit uns selbst, mit anderen Menschen und all dem, was wir bereits tun.
Wir haben dieses Buch in Form einer Reihe relativ kurzer Beiträge gestaltet. Einige enthalten Gedanken über Mitgefühl, einige stellen Methoden für das Entwickeln von Mitgefühl und den damit verbundenen Stärken vor und andere beschäftigen sich eingehender mit unseren Gefühlen und unseren Möglichkeiten, sie zu verstehen und mit ihnen zu arbeiten. Wenn Sie Ihr Herz für Mitgefühl öffnen, beginnt sich Ihr Leben zu verändern. Der Drang, andere niederzumachen, weicht dem Wunsch, für andere zum Segen zu werden; Gefühle der Isolation und Getrenntheit weichen dem Gefühl der Verbundenheit. Indem wir lernen, unsere Gefühle zu akzeptieren – auch die negativen wie Eifersucht und Wut –, hören wir auf, uns dafür zu beschuldigen, und können besser mit ihnen umgehen. Während wir unsere Empathie, unsere Zuneigung und unser Mitgefühl für andere vertiefen, stellen wir fest, dass unser Bedürfnis, zu urteilen und zu kritisieren, schwindet und durch den Wunsch ersetzt wird, sie zu verstehen und ihnen zu helfen. Mitgefühl ist eine Tür zum Glücklichsein, zu emotionaler Stabilität und guten Beziehungen.
Unser Ansatz
Dieses Buch hat zwei Autor(inn)en: Der eine ist klinischer Psychologe und die andere eine buddhistische Nonne. Als ich (Russell) darüber nachdachte, ein Buch mit kurzen theoretischen Beiträgen sowie praktischen Methoden zum Entwickeln von Mitgefühl herauszubringen, wollte ich sowohl aus dem Wissen der westlichen Psychologie als auch der buddhistischen Tradition schöpfen, denn beide versuchen, das menschliche Leiden zu verstehen und zu lindern. Ich stellte mir vor, wie großartig es sein müsste, einen buddhistischen Lehrer oder eine Lehrerin als Koautor/ in zu haben. Glücklicherweise kannte ich genau die richtige Person. Da ich die Gemeinschaft Sravasti Abbey besucht und in meinem Bemühen, Mitgefühl zu entwickeln, enorm von ihren Schriften, Lehren und den dort gelebten Werten profitiert hatte, war ich begeistert, als die Ehrwürdige Thubten Chodron sich einverstanden erklärte, mich auf dieser Reise zu begleiten. Mein Anliegen ist es, zu zeigen, dass Buddhismus und Psychologie gemeinsam auf dasselbe Ziel hinarbeiten können: uns zu helfen, mit offenem Herzen zu leben, Güte und Mitgefühl für uns selbst und andere zu entwickeln, auch und gerade in einem von Hektik und Stress geprägten Alltag. Mitgefühl ist etwas, das wir in jeden Moment unseres Lebens hineinbringen können, und sowohl die uralten Traditionen des Buddhismus als auch die heutigen Ansätze der Psychologie können, wie Sie noch sehen werden, viel zu diesem Bemühen beitragen.
Und obwohl es einige Berührungspunkte zwischen diesen beiden Wegen gibt, bietet jeder Bereich seine eigenen, einzigartigen Perspektiven. Wir fanden es aufregend, diese Traditionen miteinander zu verbinden.
Für uns beide ist Mitgefühl ein hohes Gut, wir versuchen, es in unserem Alltag zu leben, und bemühen uns, mit anderen zu teilen, was wir darüber wissen und damit erlebt haben. Wir beide haben großen Respekt vor Menschen – seien sie bekannt oder nicht –, die leuchtende Beispiele für gelebtes Mitgefühl sind. Beide haben wir sehr von den buddhistischen Lehren über Mitgefühl profitiert und haben Ansätze der westlichen Psychologie zum Entwickeln von Mitgefühl in unserem eigenen Leben und als Lehrer genutzt.
Wir denken, dass es in unserer Herangehensweise auch interessante Unterschiede gibt. Chodron, eine Nonne in der Tradition des tibetischen Buddhismus, nähert sich dem Thema Mitgefühl hauptsächlich aus einer spirituellen Perspektive: Sie studiert und praktiziert seit Jahrzehnten die Lehren des Buddha und großer buddhistischer Meister. Diese Lehren beschreiben Schritt für Schritt Methoden, um über Wut hinauszugehen, Vergebung zu kultivieren sowie bedingungslose Liebe und Mitgefühl für alle Wesen zu entwickeln.
Als klinischer Psychologe und durch meine Arbeit als Therapeut, Forscher und Universitätsprofessor, der sich auf Bereiche wie emotionale Störungen, Achtsamkeit, Wut und Compassion Focused Therapy spezialisiert hat, betrachte ich (Russell) die Dinge mehr aus der wissenschaftlichen Perspektive der westlichen Psychologie. Das zeigt sich auch darin, wie ich mich dem Thema Mitgefühl nähere: Ich betone die Rolle, die das entwickelte Gehirn bei der Entstehung unserer emotionalen Reaktionen spielt, und beziehe auch die Praxis der Achtsamkeit ein, so wie sie gegenwärtig in der westlichen Psychologie gelehrt wird.
Wir hatten auf der Basis unseres unterschiedlichen Erfahrungshintergrundes und unserer unterschiedlichen Ausbildungswege viele interessante Gespräche über Mitgefühl. Aber vor allem treibt uns ein gemeinsames Engagement an: uns für Mitgefühl, Güte, Toleranz und die Linderung des Leidens einsetzen zu wollen. Wir hatten viel Freude an der gemeinsamen Arbeit, beim Untersuchen der Frage, was Mitgefühl ist, und beim Schreiben darüber, und wir hoffen, dass auch Sie Freude an dieser gemeinsamen Arbeit haben.
Geist und Gehirn
An verschiedenen Stellen des Buches werden wir über den menschlichen Geist, das Gehirn und die Interaktion zwischen beiden sprechen, es ist also von Vorteil, zunächst einmal zu definieren, was wir mit dem einen und dem anderen meinen. Mit „Geist“ meinen wir die mentale und emotionale Aktivität – jenen Teil von uns, der denkt, wahrnimmt, fühlt und erlebt. Das schließt die bewussten, kognitiven, intelligenten und gefühlsbedingten inneren Anteile von uns als menschlichen Wesen ein. Anders als das Gehirn besteht der Geist nicht aus Materie.
Buddhisten sehen den Geist als reine Klarheit und reines Gewahrsein. Klarheit bezieht sich dabei auf die immaterielle Natur des Geistes sowie auf den Geist als Spiegel, der alles reflektiert, was vor ihm auftaucht. Gewahrsein weist auf die Fähigkeit des Geistes hin, wahrzunehmen, zu erleben und uns mit Dingen zu beschäftigen.
Die Natur des Geistes ist grundsätzlich rein, klar und unberührt, obwohl er manchmal von störenden inneren Zuständen vernebelt ist, wie Anhaftung, Wut und Verwirrung. Eine Analogie kann hier hilfreich sein: Der Geist gleicht dem klaren Himmel, während seine Inhalte – Gedanken, Emotionen und so weiter – wie Wolken sind, die über den Himmel ziehen. Die himmelsgleiche Natur des Geistes an sich ist rein, die Wolken (Gedanken und Emotionen) sind kein inhärenter Bestandteil davon. Störende oder verstörende Gefühle trüben den Geist, sodass wir die Dinge nicht sehen können, wie sie wirklich sind. Glücklicherweise kann das aufgelöst werden, indem wir Weisheit entwickeln, die uns befähigt, die reine, himmelsgleiche Natur unseres Geistes zu erkennen.
Das Gehirn ist dagegen ein physisches Organ, das sich im Laufe der Evolution weiterentwickelte, aus Neuronen genannten Zellen besteht und mithilfe komplexer elektro-chemischer Prozesse funktioniert. Die Interaktion zwischen Geist und Gehirn ist kompliziert und das ist beispielsweise ein Bereich, in welchem wir leicht abweichende Standpunkte vertreten. Chodron betrachtet die Beziehung zwischen Gehirn und Geist als korrelativ: Sie ist der Ansicht, dass das Gehirn mentale Aktivitäten und Emotionen oft spiegelt oder reflektiert, sie aber kaum verursacht. Russell stellt mehr die Rolle des Gehirns als „Produzent“ unseres Erlebens der Realität in den Vordergrund und betrachtet seine physische Aktivität als Teil der Kausalkette, die unsere mentalen und emotionalen Erfahrungen hervorbringt, auch wenn es selbst wiederum von diesen Erfahrungen geformt wird. Wenn es um das