64 Innehalten und den Dingen Raum lassen
65 Mitgefühl und ethische Lebensweise
66 Mitgefühl, Unsicherheit und unbequeme Wahrheiten
67 Jede kleine mitfühlende Tat kann große Wirkungen haben
68 Wie uns Mitgefühl verändert
69 Mitgefühl in jeden Augenblick hineinbringen
Danksagung
Anmerkungen
Literatur
Vorwort von seiner Heiligkeit dem Dalai Lama
Ich sage den Leuten immer, dass „Herzensgüte“ meine Religion ist, denn Güte ist uns angeboren. Ohne Güte und Freundlichkeit könnte keiner von uns überleben. Wenn wir auf die Welt kommen, werden wir mit Güte und Mitgefühl empfangen. Aufgrund der Güte und Freundlichkeit anderer haben wir Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Medizin – alles, was wir brauchen, um zu überleben. Als Kinder erhalten wir unter der Obhut anderer eine Bildung und lernen viele wertvolle Dinge, die uns im Leben weiterhelfen. Wenn wir von der Güte anderer profitiert haben, ist es nur natürlich, dass wir etwas zurückgeben.
Manchmal hält uns unser Eigeninteresse allerdings davon ab. Außerdem gibt es Leute, die behaupten, wir seien genetisch darauf programmiert, ohne Rücksicht auf andere nach unserem persönlichen Vorteil zu streben. Ich glaube nicht, dass wir uns von solchen simplen Instinkten einschränken lassen müssen. Es ist ganz natürlich, dass wir unsere eigenen Interessen verfolgen, aber wir müssen es mit Intelligenz tun, nicht mit Dummheit. Und der intelligente Weg ist, auch auf andere Rücksicht zu nehmen.
Heute gelangen immer mehr Wissenschaftler zu der Erkenntnis, dass bewusstes Kultivieren von Mitgefühl sich positiv auf die Gehirnfunktion auswirkt und bestimmte neuronale Schaltkreise stärkt. Mit anderen Worten, unser wunderbares menschliches Gehirn kann transformiert werden, indem wir unsere besten Eigenschaften – Großzügigkeit, Mitgefühl, Liebe, Toleranz, Vergebung, innere Stärke, Geduld und Weisheit – nähren. Und die uralten, auf reiner Vernunft basierenden Methoden, die der Buddha lehrte, um uns zu helfen, negative Gefühle loszulassen und positive zu stärken, können uns dorthin führen.
Die globale Vernetzung und somit wechselseitige Abhängigkeit in der Welt nimmt immer mehr zu, aber ich frage mich, ob wir wirklich verstehen, dass unsere interdependente menschliche Gemeinschaft mitfühlend sein muss – mitfühlend in der Wahl ihrer Ziele, mitfühlend in der Zusammenarbeit und der Art und Weise, diese Ziele zu verfolgen. Mitgefühl stärkt die Grundprinzipien der Würde und Gerechtigkeit für alle. Vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen entspringt alles dem Geist, dem Bewusstsein. Echte Wertschätzung von Menschlichkeit, Mitgefühl und Liebe ist das Schlüsselthema. Wenn wir anfangen, mit Herz an die Dinge heranzugehen, ob im Bereich der Wissenschaft, der Wirtschaft oder der Politik, wird – weil die Motivation so ungeheuer wichtig ist – uns alles mehr zum Segen gereichen. Mit einer positiven Motivation, die die Interessen anderer genauso ernst nimmt wie die eigenen, kann unser Handeln dem Wohl der Menschheit dienen, aber ohne eine solche Motivation wird unser Handeln wahrscheinlich Schaden anrichten. Deshalb ist Mitgefühl so immens wichtig für die Menschheit.
Ich freue mich besonders darüber, dass dieses Buch Die Weisheit eines offenen Herzens gemeinsam von einem Psychologen und einer buddhistischen Nonne geschrieben wurde. Beider Traditionen sind reich an Wissen und Weisheit und können viel miteinander teilen und voneinander lernen. Da ich selbst seit vielen Jahren in den Dialog zwischen moderner Wissenschaft und buddhistischer Wissenschaft involviert bin, macht es mich froh, zu sehen, dass auch andere daran teilnehmen und das Gespräch bereichern. Die Autoren präsentieren das Thema „Mitgefühl“ in einer leicht verständlichen Sprache und auf eine Weise, die für jede und jeden umsetzbar ist, gleich, welchem Glauben (oder auch gar keinem) er oder sie sich zugehörig fühlt. Die kurzen Betrachtungen am Ende jedes Beitrags geben den Lesern und Leserinnen einfache und doch effektive Hinweise darauf, wie man anfangen kann, die segensreichste aller menschlichen Eigenschaften zu entwickeln und zu kultivieren: Mitgefühl.
Der Dalai Lama, 29. August 2013
Vorwort von Paul Gilbert
Die westliche Psychologie hat sich darauf konzentriert, den menschlichen Geist wissenschaftlich zu erforschen – vor allem den individuellen. Sie hat ihren Blick auf psychische Probleme, Aggression, Selbstsicherheit, Durchsetzungsvermögen und Selbstwertgefühl gerichtet, darauf, wie Menschen konkurrenzfähiger werden, schönere Körper und besseren Sex haben können. Tatsächlich mehren sich die Beweise dafür, dass wir im Laufe der vergangenen 30 Jahre immer selbstbezogener, habgieriger und narzisstischer geworden sind, zunehmend mit unserem Selbstgefühl und unserer Selbstdarstellung beschäftigt, ob in der „realen“ Welt bei der Arbeit oder der Partnersuche oder in der virtuellen Welt der sozialen Netzwerke. Wir wurden, wie der verstorbene Christopher Lash bemerkte, zu Theaterschauspielern, von Selbstkritik, Scham und Angst vor Zurückweisung gequält, wenn unsere „Performance“ nicht den Beifall der anderen findet. Unglücklicherweise führt unsere „Tu-mehr-habemehr-sei-mehr-Haltung“ nicht unbedingt zu größerer Zufriedenheit, sondern birgt ein erhöhtes Risiko, Depressionen und Angststörungen zu entwickeln, die in westlichen Ländern gerade unter jüngeren Menschen auf dem Vormarsch sind.
Was geschieht also, wenn wir das auf den Kopf stellen, das heißt, wenn nicht vor allem Selbstoptimierung der Schlüssel zum Glücklichsein ist, sondern Mitgefühl – der Wunsch, sensibel für das eigene Leiden und das anderer zu sein –, verbunden mit dem Wunsch, sich damit auseinanderzusetzen, es zu lindern und zu verhindern? Was geschieht, wenn wir das Leiden bei uns selbst und anderen nicht als Zeichen dafür betrachten, dass etwas „schiefgelaufen“ ist, oder als persönliches Versagen oder Schwäche, sondern stattdessen als einen normalen Lebensprozess, der von uns verlangt, Einsicht und Mut zu entwickeln.
Das war der Weg des Buddha vor etwa 2500 Jahren. Er wurde als Prinz geboren, und um ihn vom Leid der Welt fernzuhalten, ließ ihm sein Vater von hohen Mauern umgebene goldene Paläste bauen, in denen alle seine Wünsche erfüllt wurden: das beste Essen, der beste Wein, die schönsten Frauen. In den ersten 30 Jahren seines Lebens konnte er also ein Leben führen, in dem ihm alle weltlichen Freuden im Überfluss zur Verfügung standen. In gewisser Weise bekommen wir heute in den westlichen Gesellschaften ja gesagt, dass wir genau das tun sollen: mehr kaufen, mehr haben, mehr tun, mehr sein, und uns den Vergnügungen hingeben – Essen, Trinken, Urlaub, Autos, TV-Shows – und das Leid in unserem eigenen Herzen und bei anderen nicht so sehr beachten.
Doch Siddhartha (der künftige Buddha) ahnte, dass es jenseits der Mauern, jenseits aller seiner Vergnügungen etwas anderes gab. Und so schlich er sich eines Tages mit einem Diener aus dem Palast. Draußen begegnete er vier Botschaftern. Einem alten Mann, dessen körperlicher Verfall offensichtlich war, einem Kranken, der Schmerzen litt, und einem verwesenden Leichnam. Ihm wurde bewusst, dass, wie sehr man sich auch von den Vergnügungen oder Anforderungen des Lebens ablenken ließ, das Leiden letztendlich nie weit entfernt war. Der vierte Botschafter war ein heiliger Mann, den er in der Stadt umhergehen sah. Als Siddhartha seinen Begleiter fragte, wer dieser Mann sei, erwiderte der Diener, das sei ein heiliger Mann auf der Suche nach den Ursachen des Leidens und dem Ende des Leidens. Da begann der Buddha, sich für die Realität des Leidens zu öffnen, und er beschloss, ebenfalls die Ursachen des Leidens zu erforschen, den Weg zur Beendigung desselben zu suchen und den Dingen auf den Grund zu gehen.
Ich habe mich oft gefragt, ob ich an seiner Stelle denselben Weg gewählt hätte. Oder hätte ich mir gesagt: „He, Mann, die Hölle ist da draußen, außerhalb dieser Mauern. Ich werde hierbleiben und weiterhin den guten Wein und das Zusammensein mit den Frauen genießen, singen und tanzen und feine Kleider tragen“? Das tun die meisten von uns: Wir versuchen, das Leiden draußen zu halten, und hoffen, dass das Leben uns nicht allzu hart