Wir kennen die Antworten alle: Wir lernen, brav zu sein, uns anzupassen, durch Leistung aufzufallen, keine unnötigen oder störenden Äußerungen von uns zu geben und unsere Gefühle mehr und mehr zu verbergen – vor allem unsere Schwächen, Ängste und Nöte.
Können Sie sich daran erinnern, dass Ihr Lehrer vor einer Schularbeit die emotionale Befindlichkeit der einzelnen Schüler erhoben hat, um diese dann in die Benotung einfließen zu lassen? Hat man Sie darin geschult, mit Nervosität und Versagensängsten umzugehen?
Haben wir gelernt, unsere Gefühle wenigstens nachmittags lebendig ausdrücken zu dürfen – wenn sie schon vormittags im Unterricht störend waren? Haben wir gelernt, mit Gedanken, Worten und Bewegungen unsere Gefühle zu beeinflussen, um den Lebensalltag auch tatsächlich genießen zu können? Haben wir das Lernen je gelernt?
Wir haben uns im Turnunterricht eine Reihe von sportlichen Bewegungsabläufen angeeignet, aber nicht eine einzige sprechende, lebendige Geste unserer Hände! Wir haben gelernt, unsere Gefühle zurückzuhalten, bevor wir erfahren durften, wie sie sich ausdrücken lassen.
Gefühle werden mit Beginn der Schulzeit zum Tabu. Die Bildung des Geistes steht im Vordergrund – die Bildung des Herzens tritt zurück. Zugleich bestimmen Stress, Druck, Furcht und Konkurrenzkampf mehr und mehr den Alltag.
Im Berufsleben wird dieses Tabu dann fortgesetzt: Gefühle sind verpönt, sie haben fast oder gar keine Bedeutung. Wer seine Gefühle zeigt, gilt als sonderbar, hysterisch oder übersensibel.
Zwar leiden knapp 70 Prozent aller berufstätigen Menschen in Mitteleuropa unter Konflikten mit Kollegen oder unter einem schlechten Arbeitsklima, doch den Gefühlen, die sich dahinter verbergen, wird keine Beachtung geschenkt. Man nimmt eher in Kauf, krank zu werden oder dem Burnout zu erliegen, als die eigene gefühlsmäßige Wahrheit zu äußern oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Manche Menschen lässt dieser unausgeglichene Gefühlshaushalt zu tickenden Zeitbomben werden: Sie explodieren schließlich irgendwann. Andere wiederum schlucken ihre bedrohlichen Gefühle so lange hinunter, bis ihnen eine Depression jede Kraft und jeden Antrieb raubt.
Der Umgang mit Gefühlen ist für viele Menschen Neuland. Gefühle zu zeigen und auszusprechen fällt schwer, besonders wenn es um Schwächen oder Ängste geht.
Wir haben für viele alltägliche Lebensbereiche unser Handwerk gut erlernt: Wir können Auto fahren, Einkäufe erledigen, Smartphones bedienen, durch TV-Kanäle zappen, im Internet surfen, Bankgeschäfte erledigen, den Haushalt bewältigen etc. Doch mit unserem Innenleben können wir nicht umgehen. Für unserer Gefühle haben wir kein Handwerkszeug, obwohl jede Art zu scheitern, falls wir scheitern, von ihnen abhängt, denn: Gefühle sind das Leben selbst.
Auf neutrale Gefühle reduziert
Es gibt einen einfachen Grund, warum uns ein offener Umgang mit Gefühlen, eine Änderung unseres Verhaltens, so schwerfällt: Wir sind durch hundert- bis tausendmalige Wiederholung neurologisch und biochemisch darauf programmiert worden, unsere Gefühle zu zügeln oder zu verbergen.
Wie oft haben Sie folgende Sätze gehört: „Setz dich hin! Nicht so laut! Hör auf zu schreien! Gib endlich Ruhe! Warum weinst du schon wieder? Keine Schwäche zeigen! Du musst jetzt stark sein! Wovor hast du denn Angst? Lass das! Nicht so nah! Finger weg! Reiß dich zusammen!“
Jedes gewohnte Verhalten in unserem Leben ist auf Wiederholung gegründet. Wir putzen uns täglich mehrmals die Zähne, weil unsere Eltern uns unermüdlich und hunderte Male dazu angehalten haben. Wir verbergen aus demselben Grund aber auch unsere Gefühle.
Wie bereits erwähnt, die Regeln für unser Gefühlsleben sind über viele Generationen entstanden. Niemand trägt die Schuld und gewiss wollten unsere Eltern und deren Eltern nur das Beste für ihre Kinder. Sie haben uns mit viel Mühe und Liebe in Richtung kleine und neutrale Gefühle programmiert. Die Leistungsgesellschaft besteht mittlerweile auf eine solche gefühlsneutrale Professionalität – und krankt daran.
Auf „Ver-Halten“ programmiert
Gefühle wollen durch den Körper hinaus ins Leben. Der Begriff Emotion kommt vom lateinischen Wort „emovere“, was so viel bedeutet wie „hinausbewegen“ oder „ausagieren“. Aber genau diesen Ausdruck, dieses Ausleben haben wir nie geübt, im Gegenteil: In die Gehschulen der Kindheit verbannt und auf die Stühle der Jugendzeit gesetzt, haben wir viele Stunden täglich trainiert, unseren Bewegungs- und Ausdrucksdrang zurückzuhalten.
Freie, lebendige Bewegung ist uns fremd geworden. Wir gehen mit eingesunkenen Schultern im immer gleichen Takt. Wir jubeln nicht mit dem ganzen Körper und der ganzen Stimme, wenn wir einen Erfolg verbuchen. Wir schämen uns davor, zu zittern, wenn wir vor anderen eine kleine Rede halten, oder dafür, am Ende eines Kinofilms zu weinen. Wir sind nicht mehr ungestüm und schon gar nicht mehr ausgelassen.
Ängste, Scham und das Gefühl, peinlich zu sein, prägen allzu oft unser Innenleben, doch nach außen hin wird nichts davon sichtbar. Unser öffentliches Verhalten läuft wie auf Schiene und hinter Masken ab – und das Wort „Verhalten“ drückt tatsächlich aus, wie wir mit uns selbst umgehen.
Das Paradoxe daran ist: Dieses Verhalten kommt uns normal vor und lebendiger Ausdruck erscheint uns abnormal. Eine lebendige Form der Bewegung ist jedoch die Voraussetzung für einen intakten, gesunden und heilsamen Gefühlshaushalt.
Gefühle wachsen mit dem ihnen entsprechenden körperlichen Ausdruck. Nur wenn Gefühle sich frei durch Körper, Stimme und Sprache nach außen bewegen dürfen, bleibt man gesund und in seelischer Balance. Denn nur das entspricht dem natürlichen Fluss.
Auf Folgen gedrillt
Warum erregen so viele Kleinigkeiten des Alltags unser Gemüt? Warum lassen wir uns wieder und wieder von negativen Gefühlen unserer Umwelt anstecken? Warum reagieren wir überhaupt, wenn jemand uns beleidigt oder im Zorn überfällt?
Die Antwort ist ebenso einfach wie betrüblich: Wir sind darauf eingestellt, zu folgen, die Vorgaben anderer, Größerer, Älterer zu erfüllen, alten Regelwerken nachzueifern, aber keine neuen, eigenen zu kreieren. Wir haben sehr wenig bis gar keine Übung darin, unser Verhalten selbst zu bestimmen. Wir sind gedrillt darauf, zu folgen, nicht aber zu führen. Vor allem nicht uns selbst.
In den ersten Jahren unseres Lebens wurden Forderungen und Regeln schließlich immer von Erwachsenen geäußert, also von uns weit überlegenen Personen. Je negativer diese Äußerungen waren, desto bedrohlicher war die Situation und desto stärker hat unser Unterbewusstsein dies abgespeichert. Denn es folgt stets der ersten, innersten Direktive des Selbsterhaltungstriebes: Schütze dich und dein Überleben.
Ebenso schwer wiegt, dass wir mit Gefühlen zum Folgen erzogen wurden: Liebe, Zuwendung und Nähe gab es als Belohnung für das Entsprechen und Gehorchen. Je schneller ein Kind sich anpasst, desto eher gilt es fälschlicherweise als liebenswert, also der Liebe wert. Je stiller es ist, desto braver ist es. Eigensinn wurde häufig durch Ablehnung oder Strafe geahndet, Frechheit durch Zorn, freier, lebendiger Gefühlsausdruck durch harsche Zurechtweisungen.
Betrachten wir noch einmal die Schulzeit: Der tägliche Stundenplan ist vorgegeben. Was in den Stunden zu lernen ist, ist vorgeschrieben, ebenso die Dauer einer Unterrichtseinheit, die Art und Weise, wie eine Aufgabe zu lösen ist usw. Denken wir an den Beruf: Im Allgemeinen sind die Abläufe vorgegeben und auch das Wann, Wo und Wie. Wir haben uns perfekt daran gewöhnt, den Vorgaben anderer oder den Strukturen des Leistungssystems zu folgen.
Wir haben uns hingegen nie an Selbstbestimmung, an kreatives, eigenes Schöpfen oder an individuelles, freies Entscheiden gewöhnt. Es fällt uns viel leichter, einer Vorgabe, die von außen auf uns zukommt, zu folgen, als einen ersten oder nächsten Schritt aus eigenem Antrieb zu gehen. So reagieren wir oft viel zu schnell auf Einflüsse von außen. Wir nehmen die Außenwelt täglich völlig automatisch in uns auf und folgen ihren Vorgaben.
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