Diese Geschichtsklitterung ist ein simples Produkt der Paradigmen von Institutionenökonomie und Kulturalismus, nach deren Muster völlig divergente historische Erscheinungen anachronistisch eingeebnet werden, sodass das Resultat kaum noch überraschen kann: „Wenn wir aus der Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung etwas lernen, dann dies: Kultur macht den entscheidenden Unterschied… Die ökonomischen Erfolge Japans und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man durch eine Betrachtung der Kultur durchaus vorhersehen. Dasselbe gilt für Südkorea im Vergleich zur Türkei und für Indonesien im Vergleich zu Nigeria… Auch die entgegengesetzte Reaktion ist möglich: Kultur kann sich unternehmerischen Initiativen entgegenstellen. Diesen Fall haben wir in Russland, wo 75 Jahre markt- und profitfeindlicher Ideologie und Privilegienwirtschaft unternehmensfeindliche Haltungen zementiert und verankert haben… Besonders dringlich stellt sich das Problem in Ländern, in denen unternehmerische Aktivitäten rar sind. In einer Welt des raschen Wandels und der internationalen Konkurrenz kann es sich eine Gesellschaft kaum leisten, auf Privatinitiative zu warten…“ (Landes 1999, 517 ff.).
Landes macht sich einer doppelten intellektuellen Sünde schuldig, die einem identischen ideologischen Denkfehler entspringt. Zum einen misst er die Geschichte von Jahrtausenden an den Kriterien des irrationalen kapitalistischen Selbstzwecks der Verwertung des Werts und beurteilt so vom alten Griechenland und dem alten China bis zur heutigen Staatenwelt sämtliche Länder und Kulturen danach, ob sie (seiner Meinung nach) der Herausbildung kapitalistischer Strukturen förderlich waren oder nicht. Was die gegenwärtige kapitalistische Peripherie angeht, wurden seine Kriterien sogar rein immanent betrachtet schon zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches blamiert, denn nach dem Zusammenbruch der Tigerstaaten hat sich in ökonomischer Hinsicht Südkorea der Türkei und Indonesien Nigeria ziemlich angenähert. Dieses Desaster allerdings war durch keinerlei „Betrachtung der Kultur“ vorauszusehen.
Zum anderen entwickelt Landes die peinlich zirkuläre Argumentation, dass unter der blinden Voraussetzung kapitalistischer Produktionsbedingungen eine den kapitalistischen Motiven förderliche Kultur, wer hätte das gedacht, „erfolgreicher“ ist als andere, wobei er nicht einmal vergisst, hinzuzufügen, dass sogar der Erfolg Gewinner und Verlierer auf einer ganz existentiellen Ebene impliziert. Die Unverschämtheit der Argumentation besteht wie überhaupt in der bürgerlichen Ideologie darin, dass der Kapitalismus nicht mehr als historische Gesellschaftsformation, sondern als überhistorische Menschheitsbedingung schlechthin dargestellt wird. So kann Landes den postmodernen Kulturalismus prononciert wenden, indem er ihn (wiederum parallel zu Huntington!) zum Vehikel eines expliziten neuen Eurozentrismus macht, wobei er sich darin „tabubrecherisch“ gefällt und sozusagen genüsslich wälzt: Die westliche Version des Menschseins erscheint abermals als überlegene im Zeichen der totalitären Marktwirtschaft.
Dieser neue, gewissermaßen sekundäre Eurozentrismus überschwemmt nun die viel zu kurz greifende kulturalistische Kritik am alten (kolonialistischen) Eurozentrismus. Der linke Postmodernismus wird mit seinen eigenen Waffen geschlagen und apologetisch instrumentalisiert. Auch in den Krisen- und Zusammenbruchsregionen selbst macht sich der antikritische neoliberal-postmoderne Geist als Scheinalternative zur Barbarei der korrupten Warlords und Plünderungsökonomien breit. Es sind meist im Westen und dessen Zeitgeist erzogene intellektuelle Musterschüler, die nun die Ursache der Misere nicht mehr im kapitalistischen „Terror der Ökonomie“, sondern in der institutionellen und kulturellen Rückständigkeit der vom Weltmarkt ausgespuckten Menschenmassen suchen wollen. So behauptet etwa die Afrikanerin Axelle Kabou unter dem tosenden Beifall der westlichen Legitimationsideologen und der kapitalistischen Leitmedien: „Afrika liegt nicht im Sterben, sondern es begeht in einer Art kulturellem Rausch (!), der lediglich moralische Befriedigung hervorbringt, Selbstmord. Die umfangreichen Kapitalspritzen werden daran nichts ändern können. Man müsste zunächst die afrikanische Mentalität entgiften (!), die Uhren richtig stellen (!) und die Menschen in Afrika mit ihrer Verantwortung konfrontieren (!)…“ (Kabou 1993,40).
Es hat etwas Trauriges, wie hier vom kapitalistischen Zeitgeist „mental vergiftete“ afrikanische Intellektuelle restlos die alte kolonialistische Matrix in einer postmodern reformulierten Weise übernehmen, um die „faulen Neger“ endlich zu einer kapitalistischen „Kultur der Selbstverantwortung“ zu nötigen, obwohl Afrika bereits das Gros der im Weltsystem „Überflüssigen“ stellt.
In dieselbe Kerbe schlägt der berüchtigte peruanische „Entwicklungsökonom“ Hemando de Soto, der schon früher durch seine Verherrlichung der Elendsökonomie als „Marktwirtschaft von unten“ aufgefallen war, indem er nun ebenfalls auf der Welle der „Institutionen-Ökonomie“ reitend „Freiheit für das Kapital!“ (de Soto 2002) fordert, um die nunmehr bereits durchgekaute Ideologie vom „Mangel an verlässlichen Institutionen“ noch einmal wiederzukäuen und entsprechend hochtrabend zu „warnen“.
Damit entpuppt sich die kulturalistische Ideologie der „political correctness“, die vor allem in den USA formal emanzipatorisch interpretiert wurde, als neues Herrschaftsinstrument, ganz im Sinne von Landes. Der gesellschaftskritisch viel zu oberflächliche postmoderne Impuls, die „Identitäten“ und Traditionen der farbigen Menschen und der nichteuropäischen Kulturen offiziell anzuerkennen, in den akademischen Kanon aufzunehmen und mit Quotengarantien zu versehen, wird nun umgedreht und richtet sich gegen seine vermeintlichen Nutznießer: Die Marktwirtschaftsfrömmler nageln sie pejorativ auf ihre „ethnischen“ und kulturellen Identitäten fest, die sich plötzlich als Makel und Stigma mangelnder Kompatibilität mit dem allherrschenden ökonomischen Totalitarismus erweisen. Also sind sie an ihrer Armut und an ihren Krisen selber schuld, weil sie nicht genügend „Kapitalkultur“ in ihren Köpfen und Institutionen haben.
Die soll ihnen nun wie gehabt der glorreiche Westen gnädig als eine „Entwicklungshilfe“ verabreichen, die rein ideologisch ist und deshalb gar nichts mehr kostet. Der kapitalste aller Böcke, eben das kapitalistische Weltsystem samt seinen ehrenwerten Repräsentanten, wird zum globalen Menschengärtner geadelt, und damit lassen sich die Wirkungen der Systemkrise zu äußerlichen Ursachen umdefinieren. Man hat Schuldige, und man hat seine sozialökonomische Ignoranz gerettet.
Zuletzt landet die jeweils neueste Mode der kapitalistischen Legitimationsideologie dann bei den großen institutionellen Wiederkäuern, und so ist denn inzwischen auch die Weltbank auf den postmodern-kulturalistischen und institutionen-ökonomischen Trip gekommen: „Institutionen für Märkte schaffen“ (Weltbank 2002) hat sie einen ihrer jüngsten Weltentwicklungsberichte betitelt, um darin treu und brav „das Verständnis für die Rolle marktunterstützender Institutionen“ (Wolfensohn 2002) einzuklagen und ihren „Auftrag“ entsprechend zu reinterpretieren: „Für den Auftrag der Weltbank, die Armut zu bekämpfen, ist die Schaffung wirksamer Institutionen eine entscheidende Herausforderung. Da wir uns der zentralen Bedeutung von Institutionen im Entwicklungsprozess bewusst sind, haben wir einen ‚Umfassenden Entwicklungsrahmen‘ (Comprehensive Development Framework) geschaffen, der die enge Verknüpfung zwischen Institutionen und den menschlichen, physischen und makroökonomischen Aspekten der Entwicklung hervorhebt“ (Wolfensohn, a.a.O.).
So ist denn glücklich das Verhältnis von Krise und institutioneller Verwahrlosung kausal auf den Kopf gestellt und die kapitalistische Ignoranz ideologisch wasserdicht gemacht, was natürlich am Fortschreiten der realen Krisen- und Zusammenbruchsprozesse nicht das geringste ändert. Während der ökonomische Terror den Horizont für eine wachsende Mehrzahl der Menschen und nicht zuletzt der Jugend zubetoniert, darf ein deutscher Sprachkünstler und Meisterdenker liberaldemokratischer Ausgewogenheit über „offene Horizonte“ fabulieren, „in die die heute Jungen hineinwachsen“, und unberührt von den Welttatsachen eine „zweite Phase“ der glorreichen Globalisierung des Kapitals verkünden: „So wird in der zweiten Phase der Globalisierung eine