Statt sich jedoch die Paralyse des modernen warenproduzierenden Weltsystems in allen seinen Variationen einzugestehen, haben es die demokratischen Ideologen und wissenschaftlichen Mandarine im Laufe der 90er Jahre vorgezogen, die im globalen Maßstab unbewältigbar gewordenen Probleme der politischen Ökonomie einfach zu ignorieren und auf ein ganz anderes Feld auszuweichen, um dennoch den Anschein einer konformistischen Erklärung und einer Perspektive der Bewältigung erwecken zu können. Diese neuerliche Wende des intellektuellen Mainstreams, die inzwischen weltweit von Politik und Medien aufgenommen worden ist, hat sich aus verschiedenen Momenten oder Triebkräften heraus gebildet, die zu einem neuen Muster der Interpretation zusammengeflossen sind.
Zunächst haben wir es dabei mit einem lange vorbereiteten und grundlegenden Wechsel der intellektuellen und akademischen Mode in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften zu tun. Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist der von Frankreich ausgehende Siegeszug der so genannten postmodernen und poststrukturalistischen Theorien von Philosophen wie Lyotard, Derrida, Baudrillard, Foucault und anderen bis in die Proseminare und an die Mensatische vorgedrungen. Trotz aller Unterschiede und Gegensätze im Einzelnen lässt sich ein gemeinsamer Wesenszug dieser Theorien erkennen: Das Paradigma der politischen Ökonomie ist durch das Paradigma des Kulturalismus ersetzt worden. Mit derselben Inbrunst, wie man in den 70er Jahren Klassenkämpfe und Krisentheorien studierte, wurden nun kulturelle Formen, „kulturelles Kapital“ (Bourdieu), Lebensstile, Identitätsformen usw. studiert.
Keineswegs zufällig und keineswegs bloß zeitlich schließt diese intellektuelle Wende komplementär an die sozial- und wirtschaftspolitische Wende des Neoliberalismus an. Die Gesellschaft wird nicht mehr wesentlich als Produkt der politischen Ökonomie, sondern als Produkt eines „kulturellen Diskurses“ begriffen, statt das kulturelle Moment zur Dynamik der Kapitalakkumulation und ihrer Krisen in Beziehung zu setzen (Pierre Bourdieu, der dies nur äußerlich und daher verkürzt auf die soziologische Phänomenologie versucht, würde sich selbst nicht als „postmodern“ verstehen, eher im Gegenteil, aber er hat mit seiner Begrifflichkeit vom „kulturellen Kapital“ ungewollt dem postmodernen Affen Zucker gegeben). Soziale Bewegungen, gesellschaftliche Eingriffe und Veränderungen setzen den postmodernen Theorien zufolge nicht an den „harten“ Strukturen an, sondern „performativ“ am „Diskurs“ im weitesten Sinne, am kulturellen Habitus, an sozialem Design und symbolischer Selbstdarstellung.
Demzufolge ist die politische Ökonomie als solche kein Gegenstand der Reflexion mehr, schon gar nicht der Kritik (höchstens wird noch von „ökonomischen Stilen“ gesprochen, die das kategoriale Gerüst der kapitalistischen Verwertung gar nicht berühren, sondern nur dessen kulturelle Einkleidung darstellen). Die politisch-ökonomischen Kategorien und Prozesse bilden nur noch das leise, unreflektierte Hintergrundrauschen des „Diskurses“. In dieser Wahrnehmung findet eine merkwürdige Verkehrung statt: Je mehr in der gesellschaftlichen Realität der 80er und 90er Jahre die Kultur ökonomisiert wurde, desto mehr wurde umgekehrt im ideologischen Denken die Ökonomie kulturalisiert. In diesem paradoxen Vorgang wird deutlich, dass wir es mit einer kollektiven Verdrängungsleistung des gesellschaftlichen Bewusstseins zu tun haben, die im Lauf der 90er Jahre in die Interpretation von Weltkrise und Weltordnungskriegen eingegangen ist.
Der zu kurz greifende intellektuelle Ökonomismus innerhalb der Grenzen des Systems wurde also bloß durch einen erst recht defizitären intellektuellen Kulturalismus vor dem nicht mehr thematisierten Hintergrund der Formen des Systems ausgetauscht, just während dieses seinen totalitären Realökonomismus zu offenbaren begann. Einerseits drückt sich in der oberflächlichen Beliebigkeit und im schnellen Wechsel der kulturalistischen Orientierung die Beliebigkeit des Warenkonsums aus; andererseits ist diese Orientierung aber auch bestens dafür geeignet, sich vor den ungelösten und unlösbaren Problemen der politischen Ökonomie davonzustehlen.
Für große Teile der linken Intelligentsia bot der postmoderne Kulturalismus eine intellektuelle Entlastung: Man konnte mit dem Zeitgeist schwimmen und sich trotzdem auf einer symbolisch-performativen Ebene weiterhin als „radikal kritisch“ gerieren. Für die Ideologen des totalen Marktes selbst war die Möglichkeit einer intellektuellen Entlastung durch Elemente des postmodernen Denkens sogar noch verlockender: Nachdem sie das Staatsversagen durch den puren Markt kurieren wollten, können sie nun das prompte Marktversagen durch das Umschalten auf kulturalistische Interpretationen abermals, nur in anderer Weise, unter Verweis auf angeblich „außerökonomische Ursachen“ kaschieren und wegerklären.
Die „kulturalistische Wende“ wurde so zum gefundenen Fressen für die weltdemokratische Heuchelei und Ignoranz, die sich nun umso mehr auf verkürzte „ethnische“ oder „religiöse“ Zuschreibungen und Scheinerklärungen der global sich voranfressenden Gewaltstrukturen versteifen kann, je offenkundiger der Zusammenhang von Weltmarkt und Globalisierung, ökonomischer Krise, Terrorismus und Plünderungsökonomie wird. Als Grund für den Krieg in Jugoslawien fiel der westlichen Presse nichts anderes ein, als einen volkstümlichen und kulturell vermittelten „tiefsitzenden Hass“ der diversen Völkerschaften anzunehmen, der vom Tito-Regime nur künstlich unter dem Deckel gehalten worden sei: „Der Kommunismus hielt die zerstrittenen Völkerschaften Südslawiens mit eiserner Faust zusammen“, so das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im Frühjahr 1999.
Kein Ton über die sozialökonomische Leidens- und Zusammenbruchsgeschichte der jugoslawischen Volkswirtschaft schon seit den 70er Jahren, obwohl darüber ausführliche kritische Analysen nachzulesen gewesen wären (vgl. vor allem Lohoff 1996). Aber solche Analysen will man eben nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie immer nur auf die verheerenden Destruktionsmechanismen der geheiligten Weltmarktwirtschaft selber zurückverweisen.
So waren es in den 90er Jahren nur vereinzelte Stimmen, die sich vom weltdemokratischen Konsens nicht völlig irremachen ließen und sogar aus akademisch fachspezifischer Sicht die platten kulturalistischen Erklärungsmuster in Frage stellten, um den wirklichen sozialökonomischen Hintergrund aufzuhellen, auch wenn sie nicht auf eine kritische politisch-ökonomische Analyse der Weltmarktprozesse zurückgreifen konnten.
Der Berliner Ethnologe Georg Elwert etwa entwickelte Mitte der 90er Jahre einen historisch-empirischen Begriff der „Gewaltmärkte“, in denen er eine Wiederkehr katastrophischer Transformationsprozesse früherer Modernisierungsschübe (etwa in China, Afrika etc.) sieht: „Emotionen, Hass und Stammessolidarität seien es, die zur Gewalt führen, hören wir beständig. Selbst Wissenschaftler begeben sich auf diese Fährte der Erklärung. Strategisches Handeln und militärische Logistik setzen jedoch kühlen Kopf und langfristige Planung voraus. Daher möchte ich eine andere Deutung vorschlagen. Rational nachvollziehbares ökonomisches Handeln bestimmt die langfristig stabilen Grundmuster dieser Gewaltmärkte. Emotionen wie Hass und vor allem Angst werden in diesem Rahmen genutzt, sind aber nicht selbst strukturbildend… Es fällt uns schwer, in Handeln und Strukturen, welche uns zuwider sind, Arbeit oder Märkte zu sehen. Doch damit verraten wir nur, dass wir diese Begriffe jenseits unserer fachlichen Definition emotional positiv besetzen… Das ‚Marodieren‘, der systematische Raub durch Soldaten, ist… eine naheliegende Form der Reproduktion der Arbeitskraft. Wir finden es sogar, dass ein Markt für das Marodieren entsteht. Das heißt, man bezahlt eine Gefahr, um an organisierten Raubzügen teilnehmen zu können… In gewaltoffenen Räumen bildet sich eine völlig deregulierte Marktwirtschaft, eben eine radikalfreie Marktwirtschaft.