Die globale Plünderungsökonomie
Der Wahn, der sich in solchen Verhältnissen Bahn bricht, ist nur die Weiterentwicklung des ganz normalen kapitalistischen Wahns unter den Bedingungen der qualitativ neuen Weltkrise. Deshalb liegt diesem mörderischen Verhalten auch durchaus eine gewisse ökonomische Rationalität zu Grunde; nur dass diese aus der äußeren Regulation und Verrechtlichung kapitalistischer Verhältnisse und einer daran gebundenen Bewusstseinsform zu unmittelbaren Gewaltverhältnissen auch im gesellschaftlichen Binnenraum - „zurückkehrt“ kann man nicht sagen, denn der historische Durchgang durch die kapitalistische Form ist natürlich irreversibel. Was hier entsteht, sind keine kulturell eingebundenen unmittelbaren Gewaltverhältnisse mehr wie in vormodernen agrarischen Gesellschaften, sondern „entbundene“ Gewaltstrukturen, wie sie aus dem Zerfall der warenproduzierenden Anti-Zivilisation des Geldes hervorgehen.
Die unmittelbare Brutalität dieser Gewalt erscheint daher zwar oberflächlich als archaisch (im Unterschied zur „zivilisierten Barbarei“ der kapitalistischen Bürokratien und Schreibtischtäter bis hin zur äußersten Zuspitzung durch die Nazi-Mordmaschine); aber dahinter verbirgt sich ein von der bürgerlichen ökonomischen Konkurrenz wie von der damit verbundenen Individualisierung geformtes, gleichzeitig allerdings aus bürgerlichen Rechtsverhältnissen herausgefallenes Bewusstsein.
Die ökonomische Ratio des Irrationalen, die sich aus dieser negativen „Freisetzung“ ergibt, ist zunächst die Gewaltvernunft einer Plünderungsökonomie, wie sie inzwischen in Wahrheit die vorherrschende Form moderner kapitalistischer Verhältnisse in den großen Krisen- und Zusammenbruchsregionen der Welt bildet. Natürlich folgen die Bluträusche, Massaker und spontanen Grausamkeiten der inzwischen die Welt überziehenden „Bürgerkriege“ (selbst dieser Begriff ist brüchig geworden und kann das wirkliche Szenario nur andeuten) keinerlei ökonomischer Logik mehr. Aber sogar die meisten Gotteskrieger oder Ethnobanditen besitzen so viel von kapitalistischen Kriterien geformten Willen zur Selbstbehauptung, dass sie nach Geld und Gütern des modernen bzw. „postmodernen“ Massenkonsums gieren; auch wenn diese „Selbstbehauptung“ andererseits in gewisser Weise schon keine mehr ist, weil ihr der gesellschaftliche Funktionszusammenhang kapitalistischer Reproduktion abhanden gekommen ist.
Es leuchtet ein, dass diese Plünderungsökonomie keiner betriebswirtschaftlichen Produktionsweise mehr entspricht, eben weil diese in der jeweiligen Region bereits zerbröselt bzw. ganz zusammengebrochen ist oder sich davongemacht hat und somit die Konkurrenz auch nicht mehr in der Realisationssphäre des Marktes, sondern nur noch in der Realisationssphäre des bewaffneten Übergriffs ausgetragen werden kann. Die Voraussetzungen gleichen sich wie die sekundär-barbarischen Krieger aufs Haar: ausweglose Außenverschuldung und Selbstaufgabe der jeweiligen Nationalökonomie; an Beschäftigte und Beamte werden nur noch sporadisch oder gar keine Löhne und Gehälter mehr gezahlt; Verlotterung und schließliche Liquidation (soweit überhaupt vorhanden) der Infrastrukturen von der Müllabfuhr bis zum Gesundheitswesen; Rückfall großer Bevölkerungsteile in primitive Subsistenzwirtschaft usw.
Es ist eine „verlorene Generation“ ebenso tatkräftiger wie desorientierter junger Männer, die auf ihre kapitalistische „Überflüssigkeit“ bösartig reagiert und sich in den hoffnungslosen Milizen dieser Welt wiederfindet. Natürlich kann nichts geplündert werden, was nicht produziert worden ist. In einigen Ländern bietet sich dafür zum Beispiel der Restbestand an legaler und illegaler (Drogen) Rohstoffproduktion für den Weltmarkt an. So waren die so genannten radikalislamistischen afghanischen Taliban in den 90er Jahren zu den größten Heroindealern der Welt aufgestiegen, noch vor der kolumbianischen Drogenmafia.
Selbstverständlich gehen solche Strukturen von krimineller Ökonomie und Plünderungen im fast schon volkswirtschaftlichen Maßstab über das Potential der destruktiven Energie von arbeitslosen bewaffneten Jugendlichen hinaus. Es sind „Paten“, die das System der Plünderungsökonomie organisieren und beherrschen. Einerseits wird das organisierte Verbrechen in den konkurrenzschwachen und schließlich vom regulären Weltmarkt abgekoppelten Regionen längst vor dem manifesten nationalökonomischen Zusammenbruch zu einem entscheidenden sekundären Wirtschaftsfaktor. Es sind die Mafiabosse und Bandenhäuptlinge des illegalen Drogen-, Frauen- und Waffengeschäfts, die in den vom Gesetz des Weltmarkts induzierten gesellschaftlichen Erschütterungen schnell zu Quasi-Armeeführern aufsteigen und eine pseudo-politische Qualität gewinnen, die Bestandteil des Übergangs zur Plünderungsökonomie (in alter marxistischer Terminologie: gewissermaßen deren „politischer Überbau“) wird. So bestand etwa der Kern der so genannten „bosnischen Armee“ zu Beginn des Bürgerkriegs mit den Serben schlicht aus der Kommandostruktur der mit Handfeuerwaffen ausgerüsteten heimischen Kriminalität.
Nicht selten sind es allerdings auch ursprünglich ganz gewöhnliche Geschäftsleute, Händler, Fabrikdirektoren, Banker usw. (in vielen Weltgegenden mehr oder weniger identisch mit den Oberhäuptern von patriarchalischen Großfamilien-Clans), für die sich natürlich in einer Zusammenbruchsregion das Geschäftsfeld ebenso verändert wie das Geschäftsgebaren. Als Paten der Plünderungsökonomie können sie ihren regulären Bankrott kompensieren. Für den Fall, dass sie noch kapitalkräftig sind, eröffnen sich neue Anlagefelder, während die alten marktregulären unsicher werden oder ganz verschwinden.
Schon vorher ist der Übergang von größerer oder kleinerer Geschäftstätigkeit zur Kriminalität fließend, wie der Fall des inzwischen unter dubiosen Umständen erschossenen Serben Zeljoko Raznjatovic zeigt, der unter seinem Kriegsnamen „Arkan“ berüchtigt geworden ist: „Dieser … Warlord betätigte sich ursprünglich als Kneipier in Belgrad. Sein Café, das sich unmittelbar neben dem Belgrader Fußballstadion befand und das vornehmlich von den Fanclubs von Roter Stern Belgrad frequentiert wurde, warf aber keinen sonderlichen Gewinn ab. Raznjatovic wechselte daher das Metier und ging zunächst einmal ins Ausland. Wegen Bankraubs in Schweden, in der Bundesrepublik, in Belgien und in Holland mit Haftbefehl gesucht, zog sich Raznjatovic nach einigen Jahren vor dem Fahndungsdruck von Interpol wieder in das heimatliche, gerade im Auseinanderbrechen begriffene Jugoslawien zurück. Dort verstand er es, seine alten Kontakte als Kneipier nutzbar zu machen, und baute mit Hilfe seiner alten Stammgäste seine ‚Tigertruppe' auf' (Lohoff 1996, 165 f.).
Nicht zu vergessen sind die Paten aus der Diaspora: nach Westeuropa oder in die USA ausgewanderte Einheimische, die dort als Geschäftsleute zu Geld gekommen sind und nun gönnerhaft in die heimatliche Zusammenbruchsökonomie zurückkehren, um sich als marktwirtschaftliche „Entwicklungshelfer“ zu gerieren. Soweit sie nicht durch äußerlich reguläre Geschäfte zum Beispiel die Kreditgelder von IWF und Weltbank absahnen, gefallen sich viele von ihnen in der Rolle von Geldgebern irgendwelcher Milizen oder sie treten gleich selber als Hobby-Generäle auf.
Schließlich sind auch die Chargen des jeweiligen, nahezu platt gemachten Staats- und Verwaltungsapparats nicht zu vergessen, die ebenfalls umso leichter und geschmeidiger in die Rolle von Paten der Plünderungsökonomie fallen, je gewohnheitsmäßiger sie schon vorher in den schwelenden sozialökonomischen Krisenprozessen der Korruption gefrönt hatten: „Von der treulosen Gesellschaft im Stich gelassen, verschwindet der entkoppelte Staatsapparat aber nicht einfach spurlos. Wenn die Staatsbediensteten mit keinem nennenswerten Einkommen aus Steuermitteln mehr rechnen können, sind sie darauf angewiesen, ihr Auskommen aus anderen Quellen