Was sich feststellen lässt, ist eine gewisse Abstufung in den unklaren weltdemokratischen Feindbildern und in der Vorgehensweise. Im Falle des Irak und seines Diktators Saddam Hussein handelt es sich einerseits in gewisser Weise um ein Relikt des kalten Krieges und seiner „heißen“ Stellvertreterkriege, da der Irak wie viele Staaten der Dritten Welt zwischen den beiden Machtblöcken laviert und in deren Schatten sein weltregionales Aufrüstungssüppchen gekocht hatte. Andererseits war diese Aufrüstung des Irak auch bereits durch die neue Konstellation der Weltkrise nach dem Epochenbruch bestimmt, insofern es ironischerweise der Westen selbst war, der die Waffenarsenale für den blutigen irakischen Golfkrieg der 80er Jahre gegen das benachbarte Mullah-Regime des Iran geliefert hatte.
Saddam Hussein, ursprünglich im Kalten Krieg von der Sowjetunion protegiert, war in den 80er Jahren (wie verwandte Diktatoren-Gestalten der Peripherie sowohl vorher als auch nachher) zum Monster-Baby der westlichen Weltdemokraten selber mutiert, das sie aufgepäppelt hatten, um es in eine neue Art von Stellvertreter-Krieg gegen den damaligen iranischen „Schurkenstaat“ Nr. 1 zu schicken. Diese Option wurde mit großem Aufwand wieder revidiert und der Westen musste die von ihm selber gelieferten zweitklassigen und veralteten Waffensysteme zusammenschießen, was nicht gerade für ein schlüssiges Konzept der Weltordnungskrieger spricht.
Um das eigentliche Problem verstehen zu können, ist es notwendig, das zu tun, was die westlich-demokratischen Ideologen des Weltordnungskriegs um jeden Preis zu vermeiden suchen: nämlich die schwankenden Definitionen der „Weltfeinde“ auf den wirklichen Prozess der kapitalistischen Weltkrise zu beziehen, aus deren Verlauf erst auf die Entwicklung des Feindbildes geschlossen werden kann. Bei dieser Betrachtung stellt sich die Konstellation des Kriegs gegen den Irak Anfang der 90er Jahre als ein Übergangsphänomen heraus.
Krisenpotentaten und neue Bürgerkriege
Kann der erste demokratische Weltordnungskrieg gegen den Irak zumindest teilweise noch als Überhangproblem des Kalten Kriegs nach dem Epochenbruch verstanden werden, so war der zweite Weltordnungskrieg gegen Restjugoslawien schon viel stärker von den Folgen der neuen Weltkrise bestimmt. Im Unterschied zu Saddam Hussein, der vor den Sanktionen noch aus dem Vollen des Ölreichtums schöpfen konnte, war die neue Unperson Milosevic kein übrig gebliebener Diktator aus der Epoche des Kalten Krieges, sondern bereits ein typischer Krisenpotentat, hervorgegangen aus dem Zusammenbruch der vom Weltmarkt zermalmten jugoslawischen Nationalökonomie. Insofern verweist die jugoslawische Krise auf eine andere, höhere Qualität des Weltordnungskriegs; denn auf dem Balkan geht es nicht mehr um die Zähmung einer dysfunktional gewordenen Diktatur alten Zuschnitts, sondern um die Intervention gegen die politisch-militärischen Konsequenzen ökonomischer Zusammenbruchsprozesse.
Aber auch der Typus des Krisenpotentaten, wie ihn Milosevic repräsentierte, ist noch nicht die letzte Stufe in der Phänomenologie politisch-ökonomischer Zerfallsformen. Dort, wo dieser vom Weltkapitalismus induzierte Zerfall bereits auf der substaatlichen Ebene angekommen ist, löst sich das demokratische Feindbild endgültig in Irrationalität auf. Die fast schon mythische Figur eines Osama bin Laden etwa lässt erkennen, dass die Begriffslosigkeit der sterbenden bürgerlichen Politik nach Bildern und Imaginationen sucht, um dem für sie Unbenennbaren eine Art Gesicht zu geben, in das man schlagen kann. Mafia, Räuberbanden, Gotteskrieger, verborgene Fürsten des Terrors: Was in der zerbrechenden Welt der fruchtlosen Weltordnungskriege nach dem Typus Milosevic kommt, liegt bereits jenseits des modernen politisch-militärischen Konflikts, wie er zumindest der äußeren Form nach mit dem irakischen oder restjugoslawischen Regime noch ausgetragen werden konnte.
In allen Fällen aber handelt es sich bei den ursprünglichen, dem jeweiligen Unruheherd zugrunde liegenden Konflikten um ebenso mörderische wie scheinbar atavistische Bürgerkriege, die sich also weniger nach außen als nach innen richten - wobei das „Innen“ eine mehr oder weniger marode oder bereits zerstörte Nationalökonomie bezeichnet, deren staatlicher Rahmen auseinander bricht. Selbst im Irak, dessen Konfliktpotential teilweise noch auf einer anderen Ebene zu liegen schien (nämlich im Hinblick auf die versuchte Annexion Kuweits), spielte dieses Moment durchaus eine Rolle, etwa im inneren Krieg gegen die Bevölkerung der kurdischen Gebiete. Der jugoslawische Krieg ist bereits ein typischer Bürgerkrieg der inneren Krisenkonkurrenz, wie er längst in fast ganz Afrika und neuerdings auch in großen Teilen der ehemaligen Boomländer Asiens geführt wird. Die Bilder im Kosovo und in Bosnien, in der Osttürkei, im Kaukasus, in Afghanistan, Indonesien und auf den Philippinen, in Ruanda, Uganda oder dem Kongo gleichen sich aufs Haar.
Wenn die Dajak auf Borneo Autokorsos veranstalten, bei denen sie die aufgespießten Köpfe ihrer aus Madras eingewanderten Nachbarn mit sich führen, dann ist das kein Hinweis auf ein Hervorbrechen atavistischer Muster, vormoderner Relikte oder gar mörderischer Urtriebe ehemaliger Kopfjäger, wie es gängige Interpretationen gern hätten, sondern es handelt sich eindeutig um Verzweiflungsakte einer Überlebenskonkurrenz, die ebenso eindeutig in letzter Instanz vom Weltmarkt und den Funktionsgesetzen des kapitalistischen Weltsystems induziert sind. Es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den „marktwirtschaftlichen Strukturreformen“, wie sie von den Beratern der Weltbank und den Schattenregierungen des IWF durchgesetzt werden, und den Macheten-Massakern, Massenvergewaltigungen und riesigen Flüchtlingsströmen, mit denen die kapitalistischen Medien den demokratischen Idealismus aufgeilen.
Im wesentlichen ist es die „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln“, die in den Krisen- und Zusammenbruchsregionen die Gewalt gebiert. In gewisser Weise ist diese neue Reaktionsform der alten kapitalistischen Politik und der alten Logik imperialer Expansion durchaus wesensverwandt. Auch die bürgerliche Politik als solche ist ja nichts anderes als eine „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln“; und als imperiale Außenpolitik mündete sie stets in die unregulierte Gewaltanwendung. Die Gewalt der Krisenkonkurrenz an der Schwelle des 21. Jahrhunderts bildet freilich nur noch die grausame Karikatur dieses bürgerlichen Grundverhältnisses. Und dass diese Gewalt sich im wesentlichen nach innen statt nach außen richtet, ist ein weiteres Zeichen für den Zerfall der zu Grunde liegenden Scheinzivilisation des Geldes. Das Verhältnis hat sich umgekehrt: Nicht mehr der äußere, sondern der innere Feind bestimmt die Konfliktdefinition. Mit demselben kulturellen und psychischen Aufwand wie in der Vergangenheit das äußere, wird jetzt das innere Feindbild konstruiert und bis zum exzessiven Ausbruch entwickelt.
Dabei ist es offenbar völlig egal, ob alte, schon halb vergessene Kriegsbeile zwischen bestimmten Bevölkerungsteilen wieder ausgegraben oder ganz neue Feindbilder erfunden werden. Ebenso gleichgültig bleibt es, ob ethnische und rassistische, religiöse oder andere Zuschreibungen die Krisenkonkurrenz dominieren. Oft handelt es sich um völlig willkürliche Eklektizismen, etwa wenn im jugoslawischen Krieg die einen Kombattanten über die Sprache („Kosovaren“), die anderen über die Religion (bosnische „Moslems“) oder über ethnische und kulturelle Muster („Serben“, „Kroaten“) definiert werden. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob bestimmte Menschengruppen gewaltsam ausgegrenzt und vertrieben (wie in Borneo oder Ruanda) oder gewaltsam eingegrenzt und einem bestimmten Staatsapparat unterworfen bleiben sollen (wie im Kosovo oder den türkischen Kurdengebieten).
Alle ideologischen Kostüme, soweit sie überhaupt noch getragen werden, sind mehr als fadenscheinig geworden, ideelle und metaphysische Bezüge nur noch Vorwand. Das gilt selbst für den bewussten Rückgriff auf scheinbar vormoderne Weltanschauungen. Der sogenannte „islamische Fundamentalismus“ etwa hat so gut wie gar nichts mit den wirklichen islamischen Kulturen der Vergangenheit zu tun; er ist vielmehr die typische Erscheinungsform einer