„Wie soll das gehen?“, fragte Elise besorgt. Mit der Spitze ihres Schuhes zeichnete sie Kreise auf den Boden, rechtsherum, linksherum. Ihre Stimme klang unsicher. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um ein letztes Mal ihre Bedenken zu äußern: „Ich weiß, was meine Mutter sagen wird: ‚Kind, vergiss’ nicht, wo du herkommst. Sowas geht nicht gut.‘ Außerdem braucht sie mich immer noch als Hilfe für Botengänge sowie ihre Haus- und Näharbeiten nach Feierabend.“ Christian hatte bereitwillig zugehört. Er verstand ihre Sorgen. Dennoch bemerkte er nachdrücklich: „Du bist nicht der Besitz deiner Mutter. Du hast ein Recht auf dein eigenes Leben.“ Er schaute sie ernsthaft an und ließ ihr Zeit, bevor er fortfuhr: „Mit meiner alten Dame dürfte es auch nicht leicht werden, aber gemeinsam werden wir es schaffen. Wenn sie dich kennengelernt hat, wird sie ihre Meinung ändern.“
Auf den Frühling folgte der Sommer, für Elise und Christian der glücklichste Sommer ihres bisherigen Lebens. Wenn sie sich nicht sehen konnten, tauschten sie lange, gefühlsstarke Briefe und erzählten sich viele Kleinigkeiten aus ihrer beider Welten, die sich sehr unterschieden. Ein Leben ohne die herzliche Anteilnahme und Zuwendung des anderen konnten sie sich nicht mehr vorstellen.
Als Elise mit ihrer Mutter sprach und ihr sagte, sie wolle heiraten und wer ihr Auserwählter sei, fiel Helene in sich zusammen. Sie sah eine Zukunft vor sich, allein mit Bergen von Uniformstoffen, dem Geruch und Dampf des Bügeleisens. Den Wegen zum und vom Depot, ohne Elises Hilfe. Vor allem aber ohne Elises Gesellschaft. Die Gespräche mit Elise beim gemeinsamen Bügeln, Waschen, Abwasch und Wäsche-Reparieren gaben Helene das Gefühl, eine Freundin an ihrer Seite zu haben, die ihr zuhörte, sie verstand, auf sie einging und mit ihr fühlte. Mit Elise zusammen konnte Helene ihr karges, arbeitsreiches Leben ertragen, das sich deutlich anders gestaltet hatte, als einstmals in Jugendjahren erhofft.
So war Elises Eröffnung, heiraten zu wollen, ein Erdbeben für das innere Gleichgewicht von Helene. „O bitte, nein, das nicht“, beschwor sie ihre Tochter, wohl ahnend, dass sie weder eine Heirat verbieten noch verhindern konnte. Dass Elise eines Tages ihren eigenen Weg gehen würde und auch musste. Elise war ihr starker Anker, der sie festhielt und ihr Kraft gab. In höchster innerer Not und Verzweiflung drohte sie deshalb, sich umzubringen, wenn Elise von ihr ginge.
Christian sprach zuerst mit seiner Mutter, dann mit dem Vater. „Du heiratest keine Friseuse“, war die kategorische Aussage. „Ich werde Elise heiraten, denn ich liebe sie“, entgegnete Christian. „Dann werden wir dich enterben, und du wirst keine Existenzgrundlage haben. Dann kann die Friseuse euch beide ernähren“, sagte der Vater zynisch.
Christian war tief verletzt. In rotem Zorn stürmte er aus dem Raum. Die Tür knallte hinter ihm zu. Zwar hatte er gelernt, Haltung auch dann zu bewahren, wenn etwas schwierig wurde. Das war nun vergessen. Er konnte nicht zulassen, dass seine Liebe zu Elise in dieser Weise geringgeschätzt wurde. Vor allem, dass Elise, ihre Arbeit, ihr Leben wie geschehen, geringgeachtet wurden. Er packte seinen Reisekoffer und fuhr mit dem nächsten Zug nach Breslau, ohne sich von seinen Eltern zu verabschieden.
„Wir könnten unsere Eltern vor vollendete Tatsachen stellen“, erwog Christian, nachdem sie stundenlang ihre Lage besprochen hatten. Beide waren tief aufgewühlt. Einen für alle Beteiligten gangbaren Weg sahen sie nicht. Dennoch gelang ihnen gegen Ende dieses Wiedersehens und Zusammenseins, die Ruhe, den Frieden, ihr Glück zurückzuholen und als starke Kraft in sich zu spüren. Die Widerstände von außen nahmen sie dennoch als große Bedrohung wahr, geeignet, das Zarte zu beschädigen, dass sie verband. Elise spürte wieder die innere Stimme, die sie ganz zu Beginn ihrer Liebe gewarnt hatte vor dieser anderen Welt, der sie nicht angehörte und die sie als unüberwindliche Hürde empfunden hatte. Das Zittern ihres Herzens war auf leisen Sohlen zurückgekehrt.
Im August vertraute Elise Christian an, dass sie schwanger sei. Obgleich sie es gewollt hatten, ließ diese neue Situation sein Herz einen Moment lang stocken. Zu seinem Kampf mit den Eltern, insbesondere der Mutter, kam Verantwortung hinzu, die Verantwortung zu einer klaren Entscheidung für Elise und das neue Leben, das da entstand. Er hatte Angst, ihm könne die Kraft, der Mut, die klare Entschiedenheit seiner Empfindungen ausgehen, jetzt, da er Elise nicht mehr täglich sehen konnte. Die Ablehnung seiner Eltern und die Unmöglichkeit, mit ihnen über Elise und ihre gemeinsamen Pläne zu reden, zermürbten ihn. Auch sein Arbeitsalltag in der Firma, erschwert durch die Spannungen zwischen seinem Vater und ihm, sog einen großen Teil seiner Energie auf. Bei solchen Anwandlungen schalt er sich einen Feigling. Wenn er sich im Spiegel anschaute und seine müden, verzagten Augen seinem kritischen inneren Blick ausweichen wollten, verachtete er sich selbst zutiefst. Er holte Elises Briefe hervor mit all ihrer Liebe, Klarheit und Innigkeit, um sich daran aufzurichten und seinem eigenen Gefühl neue Kraft einzuflößen.
Er hatte den Eltern von Elises Schwangerschaft erzählt und bat seine Mutter wiederholt im Guten, Elise kennenzulernen und ihre harte Meinung zu ändern. Er drohte, tobte und war entschlossen, mit seinen Eltern zu brechen. Wenn sie dann vor ihm standen, und er das Unglück in ihren Gesichtern sah und sich vorstellte, dass auf ihm, dem Einzelkind, alle ihre Hoffnungen ruhten, hielt er seine gewollte Festigkeit nicht aufrecht und versuchte erneut, einvernehmlich ein Treffen der Mutter mit Elise an einem neutralen Ort zu bewirken.
Adelheid stimmte schließlich wider Erwarten zu. Sie hörte in Gedanken die spöttischen Kommentare aus ihrem Freundeskreis über diese Mesalliance. ‚Eine Friseuse, dazu schwanger, also irgend so ein Flittchen.‘ Ihr innerer Widerstand war unerschütterlich, und sie schob dieses Treffen, das sie zutiefst verabscheute, immer wieder auf. Als sie einwilligte, sah sie darin eine reine Formsache im Dienste des Familienfriedens. Ihre Entscheidung stand vorher fest. Sie würde dieser Heirat nicht zustimmen.
Elise hatte es schwer mit ihrer eigenen Mutter. Helene bettelte und flehte Elise an, bei ihr zu bleiben und nicht zu gehen. Das war für Elise schwerer zu verkraften, als wenn die Mutter geschrien oder gezetert hätte. „Bleib, ich ziehe dein Kind mit groß. Du kannst arbeiten gehen. Aber bleib.“ Klein, zerbrechlich und hilflos wie ein Kind stand die Mutter vor ihr und rührte ihr Herz, bis es schmerzte.
Das Treffen war endgültig für einen Tag im März in Hannover vorgesehen. Mutter Adelheid und Christian fuhren mit der Bahn bis Hannover, dann mit offener Droschke weiter bis zum vereinbarten Treffpunkt am Eingang zum Welfen-Schloss. Die Mutter war, je näher sie dem Treffpunkt kamen, zunehmend eisiger geworden, ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt, die Lippen ein schmaler Strich. Zwischen den Brauen drohte eine steile Falte. Christian vermied, seine Mutter anzusehen. Der kalte Zorn auf diese Frau, die seine Mutter war, stieg wieder in ihm hoch. Er hinderte ihn, noch einmal begütigend auf Adelheid einwirken zu wollen. Sie hatte Herz und Gefühl hinter einem Eispanzer eingeschlossen.
Elise stand hochschwanger und verloren am Straßenrand. Sie erwartete den Mann, den sie liebte, den Vater des werdenden Kindes unter ihrem Herzen und dessen Mutter. Dick und unförmig fühlte sie sich. Vier Wochen zuvor hatte sie einen neuen Mantel für dieses Treffen genäht, der wieder zu eng war und sich nicht mehr schließen ließ. Sie schämte sich wegen ihres Erscheinungsbildes. So viel hing vom heutigen Tag ab. Ihr war speiübel vor Angst. Die Bahnfahrt hatte sie angestrengt. Sie war abgespannt. Zehn Minuten Liegen täten ihr jetzt gut. Ihre geschwollenen Füße brannten in den zu eng gewordenen Schuhen. Ihr aufgewühltes Herz klopfte bis zum Hals. Ruhig sollte ich jetzt bleiben, gebot sie sich. Da sah sie die Droschke. Ihre Knie begannen zu zittern. Das Kind in ihrem Leib rumorte.
Adelheid war fein gekleidet. Blitzartig nahm Elise deren Erscheinungsbild wahr: den langen, glockigen, gestuften, rauchfarbigen Roch, dazu die taillierte kurze Jacke in gleicher Farbe, darüber das dunkelbraune Mardercape, die passende Marderkappe mit einer nach vorn gerichteten Feder und den kleinen zierlichen Muff aus Marderfell.
Christian war totenblass und ernst. Keine Regung zeigte sein Gesicht, das wie aus Marmor gemeißelt schien.
Elise konnte sich vor Aufregung kaum noch auf den Beinen halten.
Christian trug einen kurzen Mantel mit großen Revers und eine Melone. Wie fremd er aussah neben dieser fremden Frau. Elise fühlte sich wie durch eine Wand aus Eis von diesen beiden Menschen in der Droschke getrennt. Jetzt müsste ein Wunder geschehen, ich möchte erwachen und alles wäre nur