So war das also mit der Liebe, resümierte Helene für sich und schloss für den Rest ihres Lebens dieses Kapitel. Ich werde es allein schaffen, beschied sie und fand eine Arbeit, mit der sie für sich und ihre Tochter Elise den Lebensunterhalt bestreiten konnte. Da sie wegen des Kindes an das Haus gebunden war, nähte sie Militär-Uniformen im Akkord. Die Bezahlung war schlecht. Gesteigert konnte sie nur durch ein erhöhtes Arbeits-Pensum werden. Die Zeit, um zu Fuß die Stoffe bei einem Depot abzuholen und die fertigen Uniformen dorthin zu bringen, ging von der Zeit für das Nähen ab.
Kaum war Elise in der Lage, den Weg zwischen Depot und ihrem Zuhause mit einem für ein Kind viel zu schweren Paket in der Hand zu bewältigen, war es ihre Aufgabe, das Material abzuholen und die fertigen Uniformen als Paket verpackt wieder im Depot abzuliefern.
Helene arbeitete überwiegend bis in die Nacht, um ihre kleine Unabhängigkeit von ihrer eigenen Mutter zu behalten. Als Elise ins Schulalter kam und Zeit brauchte für ihre Hausaufgaben, musste sie dafür kämpfen, überhaupt in die Schule gehen und am Nachmittag ihre Hausaufgaben erledigen zu können. Helene war von der jahrelangen Überarbeitung inzwischen so erschöpft, dass sie für die Bedürfnisse ihrer Tochter kaum noch Verständnis aufbrachte. Schule, Hausaufgaben, Schönschreiben? Unzumutbarer Luxus, fand sie. So entging ihr, dass Elise an jeder Art von Bildung ein hohes Interesse zeigte. Sie wollte lesen, ein Instrument lernen, stellte viele Fragen, die Helene nicht beantworten konnte. Helene war müde und schuftete ständig an ihren Grenzen. Sie brauchte Elise als Hilfskraft. Elise konnte inzwischen schon kleinere Näharbeiten wie Knöpfe annähen, Kanten säumen neben ihren Botengängen ausführen.
Helene wurde vom Jugendamt ein älterer Herr als Hilfe an die Seite gestellt, der sich darum kümmerte, dass Elise regelmäßig zur Schule gehen und ihre Hausarbeiten machen konnte. „Der alte Quasselkopp hält dich nur von der Arbeit ab“, murrte Helene, die es demütigend fand, dass sich Außenstehende in ihre ganz persönlichen Angelegenheiten einmischten. Der Betreuer, Onkel Tritschke, wie Elise ihn nannte, sorgte außerdem dafür, dass Elise Lauten-Unterricht bekam und später wegen ihres guten Geschmacks, ihrer feinen Umgangsformen und ihres ausgeprägten Handgeschicks eine Ausbildung zur Friseurin.
Jahre gingen ins Land. Aus Elise wurde eine junge Frau, nach der sich die jungen Männer auf der Straße umdrehten. Sie war schön mit ihrem blonden Haar, ihren hellen blauen Augen, ihrem federleichten Gang. Ihren geschmackvollen Kleidern sah man nicht an, dass sie selbstgeschneidert waren und wenig gekostet hatten.
Während die 17-jährige Elise ihren Kunden und Kundinnen die Haare schnitt, färbte und ondulierte, dachte sie an den vorausgegangenen Abend. Ein Hauch von dem Glück, das sie empfunden hatte, schimmerte noch auf ihrem Gesicht. Der Stammkunde, dem sie soeben die Haare schnitt, lächelte sie staunend an. Hatte ihr Lächeln ihm gegolten?
Dass sie vor fünf Monaten Christian begegnet war, war für sie wie ein unbegreiflicher Traum. Oder durfte sie an ein wundervolles Schicksal glauben? Diesen Gedanken wollte sie festhalten. Er gab ihr Kraft und Zukunftshoffnung. Einen Hamburger Kaufmannssohn in Breslau kennenzulernen, empfand sie als selten exotisch. Christian war als Rittmeister der Preußischen Kavallerie zu einer Reserve-Übung nach Breslau abkommandiert. Durch die Scheibe des Frisier-Salons hatte er Elise gesehen; einen Moment lang waren sich ihre Augen begegnet. Ein Haarschnitt war bei ihm ohnehin fällig. So trat er ein und fragte an, ob sie ihm die Haare schneiden könne. Sie erschien ihm wie ein Schmetterling im Frühling, so zart, so jung. Er war bezaubert von ihrem jugendlichen Liebreiz, der Anmut, mit der sie sich bewegte und ihr Handwerk versah. „Ich muss sie kennenlernen“, legte er sich entschieden fest.
Sie scheute vor einem näheren Kennenlernen zurück, als er erzählte, er sei Sohn einer Hamburger Kaufmannsfamilie und als einziger Sohn künftiger Erbe des Familien-unternehmens. Elise dachte an die Armut, der sie entstammte und ihre chronisch überlastete Mutter.
Aber der 24-jährige Rittmeister hatte leidenschaftlich Feuer gefangen. Sein bisheriges Leben schien aus den Fugen. Früheres erschien ihm bedeutungslos, einer belanglosen Vergangenheit angehörend. Zum ersten Mal nahm er die Zärtlichkeit der ersten Frühlingssonne auf seiner Haut wahr. Das Frühlingsgrün der Bäume empfand er als grüner, wie mit magischer Lampe von innen beleuchtet. Der Gesang der Stare, Meisen, Finken erschien ihm melodischer und jubelnder. Der Äther duftete nach feuchter Erde und ersten Veilchen. Der Himmel war eisblau wie frisch gewaschen und blank geputzt. Seine Tage waren eine unvermeidliche Überbrückung zweier inniger Abende mit Elise.
Noch wagte Elise nicht, ihr eigenes Gefühl aus seinem Käfig zu entlassen. Alles schien ihr zu groß und unwirklich, um im Alltag Bestand zu haben. Sie dachte an ihre Mutter und deren abrupten Abschied von der Liebe und der Hoffnung auf ein normales Familienglück, als sie schwanger geworden war. Sie spürte, wie ihr eigenes Empfinden, das bisher geschlummert hatte, zunehmend in die Freiheit drängte. Weder hatte sie ihrer Mutter von ihrem neuen Leben erzählt, noch hatte sie Christian mit nach Hause genommen und Helene vorgestellt. Dieses Zarte, was da entstanden war, wollte sie solange wie möglich vor der rauen Lebenswirklichkeit ihrer Mutter schützen.
Inzwischen war die Reserveübung beendet, und die beiden jungen Menschen konnten sich nur an einzelnen Wochenenden sehen, wenn Christian sie besuchte.
An einem Sonntagabend waren sie in den Anlagen entlang der Oder spazieren gegangen. Er hatte ihre Hand genommen und in seine rechte Ellenbeuge gelegt. Mit der Linken streichelte er die Hand und hielt sie wie sacht behütend. Am Abend zuvor waren sie im Dom zu einer Aufführung der Matthäus-Passion. Ihr Spaziergang stand noch ganz unter dem Eindruck dieser Klänge. Die tiefe Traurigkeit des Textes und die ernsthafte Strenge der Musik des Thomas-Kantors hatten sie tief bewegt. Sie sprachen darüber, wie viel ihnen Musik bedeutete. Ihre beiderseitige Liebe zur klassischen Musik gab ihrer Beziehung weitere Tiefe.
Am nächsten Morgen zeigte Elise ihrem Hanseaten ihre schlesische Heimatstadt. Sie bestaunten das Breslauer Rathaus, das Wahrzeichen der Stadt in seiner berühmten Backstein-Gotik, der reich verzierten Ostfassade mit ihren zahlreichen Giebeln und der astronomischen Uhr von 1580. Elise führte Christian zum Dom, erzählte von dessen gotischem Grundbau und seinem Umbau in Renaissance und Barock. „Schau dir mal die übereinander liegenden Fenster der Türme an. Jedes Fenster ist anders.“ Christian lernte mit neuen Augen Dinge wahrzunehmen, die ihm bisher entgangen waren.
Als Elise sich eines Tages entschloss, von ihren häuslichen Verhältnissen zu erzählen, reagierte Christian anders als von ihr befürchtet. Einfühlsam nahm er Anteil und äußerte den Wunsch, ihre Mutter kennenzulernen. Er erzählte von seinem Zuhause, insbesondere seiner Mutter Adelheid, die ein strenges Regiment führte. Der Vater entzöge sich dem so oft als möglich durch seinen Club, wo er Freunde und Geschäftspartner träfe. Die Atmosphäre daheim sei eher unterkühlt, streng und distanziert. Insofern sei er erleichtert, wenn er geschäftlich oder zu Reserve-Übungen nach auswärts könne.
An einem sonnigen, warmen Frühlingstag im Mai fragte Christian Elise, ob sie seine Frau werden wolle.
Diese Frage hatte seit längerem in der Luft gelegen. Elise hatte sie verdrängt, weil sie sich davor fürchtete, die Härte der Wirklichkeit könne den Zauber ihres Märchens allzu schnell beenden. Zwar war sich auch Christian bewusst, ihr Start würde nicht einfach sein. Dennoch war sein Mut an diesem wunderbaren Frühlingstag größer als seine Sorge. Auf den Schrecken in Elises Gesicht als Antwort auf seine Frage war er dennoch nicht gefasst. Wie würden die beiden Mütter reagieren? Er hatte angedeutet, seine Eltern hätten schon seit Jahren mit einem befreundeten Geschäftspartner über die Verbindung von Christian mit Louise, der einzigen Tochter der Freunde, gesprochen. Zwei solide Unternehmen kämen so zusammen. Persönliche Präferenzen der Kinder? Kindereien. Sie seien seinerzeit auch nicht gefragt worden. Familienraison ginge vor. Schließlich lebe man nicht