Das Heilige Fest. Fritz Steinbock. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fritz Steinbock
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783944180526
Скачать книгу
und Sippe abgeleitet: Freunde (nordisch freyndur) sind, wie schon im 19. Jahrhundert der dänische Kulturforscher Vilhelm Grønbech festgestellt hat, ursprünglich nur die Blutsverwandten. Erst später heißt in einigen Sprachen – etwa im Deutschen und Englischen, während die nordischen Sprachen dafür das eigene Wort vinur (dänisch ven, schwedisch vän) behalten – auch ein Sippenfremder ein Freund, wenn er wie ein Verwandter zu uns hält.

      Dieses Verhältnis familiärer Freundschaft, von dem wir noch sehen werden, dass ihm auch eine tatsächliche Verwandtschaft zugrunde liegt, verbindet uns auch mit unseren Göttern. „Wodan ist kein Herr und seine Kinder sind keine Diener“, antwortet Hagen in einem der Nibelungenromane von Stephan Grundy einem christlichen Priester. Die Romanfigur Hagen hat es besser durchschaut als die historischen Germanen, die den Begriff „Herr“ nur vom Gefolgsherrn (ahd. trûhtin, nord. dróttinn) kannten, dem seine Krieger als freie Männer folgten, und daher meinten, auch dem „here Krist“ derart frei und ehrenvoll dienen zu können. Der Gott der monotheistischen Religionen aber ist ein „Herr“ im Sinn des lateinischen dominus: ein Besitzer von Sklaven, die ihm bedingungslos unterworfen sind und ihren erzwungenen Dienst in blindem Gehorsam und Demut verrichten.

      Gottesdienst in diesem Sinn sind unsere Rituale nicht: Wir ehren die Götter, aber wir dienen ihnen nicht. Umgekehrt ist das Ritual aber auch kein Versuch, die Götter zu bestechen oder gegen ihren Willen zu beeinflussen und zu manipulieren. Das wäre gegen ihre Ehre – und Ehre steht unter Germanen ganz oben.

      Der germanischen Tradition fremd ist ferner die Meinung, religiöse Rituale wären magisch zu verstehen. Die germanische Magie (seiðr) arbeitet nicht wie die orientalische mit Göttern und Geistern, die regelrecht gezwungen werden, zu erscheinen und dem Magier zu dienen, sondern mit den immanenten Kräften des Menschen, der sie ausübt, oder den Kräften der Gegenstände und Praktiken, die er verwendet. Sie ist nicht Beschwörung, sondern Technik, die ohne Hilfe mächtigerer Wesen aus sich selbst wirkt – in der präziseren Terminologie von Religionsforschern wie Hans-Peter Hasenfratz eigentlich nicht Magie, sondern Zauber. Andere machen da keinen Unterschied, differenzieren aber ebenfalls nach der Beteiligung von Göttern oder Geistern: Wenn eine rituelle Handlung ohne ihr Zutun wirken soll, ist es Magie; wenn man glaubt, dass sie es sind, die etwas bewirken, ist es Religion.

      Das heißt aber in jedem Fall, dass Religion und Magie zwei grundverschiedene Bereiche sind, die im historischen Heidentum denn auch ihren je eigenen Platz und je eigene Fachleute hatten: seiðkona (Magierin) und seiðmaðr (Magier) oder althochdeutsch zoubrara (Zauberin) und zaubrari (Zauberer) für magische Aufgaben und goði („Priester“) und gyðja („Priesterin“) bzw. cotinc, bluostrari usw. für die religiösen Rituale, die zwar manchmal und bei speziellem Bedarf auch magische Elemente enthalten und sich magischer Mittel bedienen können, aber nicht an sich Magie sind. Wenn in esoterisch angehauchten Kreisen gerne von „magischer Religion“ die Rede ist, hat das also weder mit echtem Heidentum zu tun noch ergibt es religionswissenschaftlich überhaupt einen Sinn.

      Religiöse Rituale dienen schließlich auch nicht dazu, die Teilnehmer auf einen Weg der Erkenntnis, Einweihung oder Erleuchtung zu führen. Das sind esoterische Deutungen, die erst in moderner Zeit entstanden sind und ihren Ursprung in Mysterienkulten von außerhalb des germanischen Raums haben. Sie mögen auf spezialisierte Einweihungsformen wie die höhere Runenkunst zutreffen, doch mit der allgemeinen Religionsausübung – etwa zu den Jahresfesten – haben sie nichts zu tun.

      Das religiöse Ritual ist weder magische Energiearbeit noch mystische Einweihung, sondern ein kultisches Fest. Es ist ein Akt der Verehrung der Götter und eine Begegnung mit ihnen auf der Basis feierlicher Gemeinschaft und wurde daher von unseren Vorfahren schlicht „Feier“ (althochdeutsch fira) genannt. Man sagte auch, dass man diese Feier „beging“ und nannte sie deshalb bigang.

      Wenn Rituale auch kein Erkenntnisweg im Sinn esoterischer Deutungen sind, ermöglichen sie es uns dennoch, die Götter zu erfahren, und das ist auch eine ihrer wesentlichen Aufgaben. Im Gegensatz zu autoritären Offenbarungslehren, die nur blind geglaubt werden können, ist das Heidentum eine Erfahrungsreligion, die statt auf Glauben auf die lebendige Begegnung mit den Göttern setzt. Diese Begegnung kann auf vielerlei Weise geschehen: im Erleben der Natur um uns und der „Natur, die wir selbst sind“; in persönlichen Visionen und in den Mythen und Traditionen, die uns die religiösen Erfahrungen früherer Generationen zugänglich und erlebbar machen, an heiligen Plätzen und Kraftorten, in Ausnahmesituationen oder ganz unerwartet im täglichen Leben.

      Die häufigste, für alle Menschen gleich erreichbare und auch am besten „steuerbare“, von uns selbst herbeigeführte Begegnung mit den Göttern geschieht aber im Ritual. Sie hat sich seit Beginn der Menschheit in allen Kulturen unzählige Male bewährt und ist die wohl älteste und grundlegende Art, Göttliches nicht nur vage zu ahnen, sondern konkret zu erfahren – „nicht hinter, sondern in den Wirkungen“, wie der moderne Philosoph Reinhard Falter sagt, der den Terminus „Erfahrungsreligion“ geprägt hat. Für unsere Vorfahren bildete das Ritual offenbar die Schlüsselerfahrung, nach der sie auch ihre Begriffe formten.

      Das Wort, mit dem die Germanen seit jeher die heilige Wirklichkeit bezeichnet haben, das heutige deutsche Wort „Gott“, lautete in der Urform guþ (gesprochen guth mit „englischem“ th wie in think) oder guð (wie in this), war sächlich und wurde ursprünglich nur in der Mehrzahl verwendet. Es bezeichnete wie noch das nordische goð die Gesamtheit der Götter beiderlei Geschlechts oder jenseits der Geschlechter, als generelle Erfahrung göttlichen Seins in all seiner Vielfalt und seinem Geheimnis. Zumindest Tacitus scheint es so verstanden zu haben, wenn er den Germanen nachsagt, sie würden „mit den Namen der Götter jenes Geheimnis (secretum illud) benennen, das sie in einziger Ehrfurcht schauen.“ Überflüssig zu sagen, dass die Einzahl des Römers falsch und jede Spekulation über einen germanischen Monotheismus, wie sie christliche Romantiker daraus entwickelten, haltlos ist: guþ ist eindeutig Mehrzahl – aber was sagt es aus?

      Jacob Grimms bekannte, bis heute in populären Darstellungen verbreitete Ableitung aus „gut“ ist philologisch nicht haltbar und hätte im Heidentum auch keine religiöse Grundlage, denn die Götter sind nicht nur in einer Welt des „Guten“, sondern in der ganzen Wirklichkeit zu Hause und in ihrem Handeln oft „jenseits von Gut und Böse“. Die moderne Sprachforschung, nachzulesen etwa in Dudens etymologischem Wörterbuch, leitet guþ aus dem indogermanischen Partizip *ghutom ab, das „angerufen“ bedeutet.

      Das Göttliche der Germanen ist also „das Angerufene“ – es zeigt sich, wenn es im Ritual „mit den Namen der Götter benannt“ wird.

      Ähnlich leitet sich das Wort für eine einzelne männliche Gottheit, nordisch áss und altgermanisch ansuz, aus der Wurzel *ans ab, die für den Pfahl oder Balken steht. Einfache, roh behauene Kultpfähle standen in den frühgermanischen Heiligtümern. Mit ihren naturbelassenen, zufällig gewachsenen Formen und minimalistisch ausgearbeiteten Gesichtszügen konnten sie nicht wirklich dazu gedacht gewesen sein, die Götter bildlich darzustellen, sondern sollten lediglich andeuten, dass sie sich hier zeigen würden. Das Wort für den Pfahl ging auf die Götter über, weil man die Erfahrung machte, dass sie in den Riten, die man davor zelebrierte, gegenwärtig wurden. So haben beide Begriffe, ansuz ebenso wie guþ, ihren Ursprung in der rituellen Begegnung.

      Natürlich ist das keine germanische Besonderheit. Angehörige aller Religionen fühlen sich in ihren Ritualen den Göttern näher als sonst, denn sie erleben dabei ihre Gegenwart in einer Weise, die über das alltägliche Leben hinausgeht. Sie sprengt auch den Rahmen des Mitteilbaren in alltäglichen Worten, ja selbst in Mythen und Dichtungen. Deshalb lässt es sich nicht erklären, was dieses Erleben ist und beinhaltet.

      Es ist auch individuell verschieden und einzigartig. Manche erfahren die Götter als Vision in klaren Gestalten, andere begegnen ihnen in sich selbst und fühlen sich von ihnen durchdrungen, und wieder anderen zeigen sie sich in den heiligen