Wen Jingming – der erste Wushu-Professor
Wenn wir hier über modernes wushu sprechen, müssen wir auf jeden Fall einen Mann erwähnen: Wen Jingming (温敬铭), den ersten Wushu-Professor Chinas. Als bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin erstmals eine chinesische Delegation zu Gast war, übernahm er die Führung. Er war damit einer der ersten Chinesen, wenn nicht der erste, der wushu im Westen demonstrierte. Ich möchte hier anmerken, dass Wen Jingming ein ausgezeichneter Meister war. Doch nicht zuletzt sein Wirken führte in der Folge zur Herausbildung des modernen wushu, auch wenn letzteres nicht von ihm stammt, sondern eher das Produkt der phantasievollen Ideen der heutigen »jungen Hüpfer« ist. Meister Wen Jingming wohnte später in Wuhan, wo sein Sohn (Wen Zhuang) heute der Cheftrainer des Sanda-Provinzteams ist. Er führte wushu an den Universitäten ein. Übrigens lebt auch seine Frau heute noch in Wuhan. Sie ist über 90 Jahre alt und ebenfalls eine Meisterin im wushu.
Ich möchte einen Vergleich zum Karate (空手) ziehen, in welchem Funakoshi Gichin (船越 義珍) eine neue Ära der alten okinawanischen Kampfkunst einleitete. Eigentlich begann diese Veränderung schon früher. Hauptsächlich war es einer der Meister Funakoshis, Itosu Anko12, der kampfstarke Meister des okinawa-te, welcher die Änderungen an der Lehre vornahm. Er formte die fünf pinan-kata (五平安形), teilte andere Formen und ersetzte viele gefährliche Elemente durch weniger aggressive. Seine Einflussnahme und später Funakoshis Wirken in der Öffentlichkeit haben in der Folge dazu geführt, dass aus der effektiven Kampfkunst ein Sport wurde. Ob sich diese Änderungen letztlich im Sinne der Meister auswirkten, kann nicht mehr beantwortet werden.
Wushu und die chinesische Oper
Die Natur des wushu ist baofali (爆发力), explodierende Kraft, Effektivität und Anwendbarkeit. Will man diese Natur verändern, entzieht man dem wushu seine Existenzberechtigung. Das ist nicht übertrieben, denn wushu bleibt nur es selbst, wenn das baofali gewährleistet bleibt. Der Sohn von Meister Zhang Kejian (张克俭) unterrichtete einst einen Kampfsportler, einen Formen-Champion von China, in traditionellen Formen. Das Ergebnis war jämmerlich. Der Sportler verwandelte jede Bewegung in eine Liang-xiang-Bewegung (Showbewegung), da ihm diese bereits in Fleisch und Blut übergegangen waren. Dadurch verfälschte sich der ganze Sinn der Technik, und die Formen wirkten, abgesehen davon, dass die Elemente nicht mehr anwendbar waren, regelrecht hässlich.
Bereits während der Kulturrevolution kam die Idee auf, wushu mit Elementen der chinesischen Oper zu mischen. Was damals begann, hält bis heute an und treibt bisweilen bizarre Blüten. Momentan werden noch andere Elemente in die chinesischen Formen eingebaut, Bewegungen aus dem Turnen zum Beispiel, und das sieht man den Formen dann natürlich auch an. Ein Element, das man heute sehr häufig findet, ist eine schnelle Kopfdrehung bei gleichzeitiger anmutiger Handbewegung. Diese Technik ist ein typisches Merkmal der chinesischen Oper. Keiner der Lehrer meines Meisters vollführte jemals solche Bewegungen.
Als Gegenstück und Vergleich zum Dargestellten soll uns hier die aktuelle Fechtlandschaft des Westens dienen. Natürlich wird nicht jeder Europäer die einzelnen Schulen unterscheiden und beurteilen können. Aber er hat dazu wahrscheinlich einen stärkeren Bezug als zur Unergründlichkeit des chinesischen wushu. Es gibt im Fechten mindestens fünf verschiedene Gruppen, die sich teilweise überschneiden, ohne sich gegenseitig zu stören. Diese sind: 1. Reenactment, bei dem mehr oder weniger professionell historische Kämpfe oder gar Schlachten nachgestellt werden, 2. Bühnenkampf (stage combat), wie er hauptsächlich im Theater zur Geltung kommt, 3. Sportfechten, 4. historisches Fechten, bei dem man sich ernsthaft um die alten Techniken bemüht und 5. das so gut wie ausgestorbene Duellfechten. All diese Gruppen haben Berührungspunkte, aber kein Bühnenfechter käme beispielsweise auf die Idee, mit seiner Technik ein reales Duell bestreiten zu wollen. Das westliche Fechten hat sich trotz all seiner Aufspaltungen viel homogener erhalten und ist auch in seiner sportlichen Form auf eine praktische Anwendung ausgerichtet. Dieses Merkmal zeichnet übrigens auch die waffenlosen Kampfkünste des Okzidents aus. Wie es aussehen würde, wenn ein Fechtmeister seine Kunst mit Elementen aus der Oper würzen wollte, bleibt unserer Phantasie überlassen.
Szene aus einer chinesischen Oper. Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert.
Doch zurück zum Thema. Während der Kulturrevolution entwickelten Wushu-Professoren, u. a. unter der Leitung von Wen Jingming, die sogenannte guidingquan (规定拳), eine festgelegte Faustform des neuen wushu. Mit dieser Form ist Jet Li13 All China Wushu Champion geworden. Diese guidingquan enthält bereits Elemente der chinesischen Oper. Wen Jingming erforschte diese Form wissenschaftlich und fand heraus, dass es, wenn man sie von Anfang bis Ende läuft, hinsichtlich der körperlichen Leistung so ist, als würde man einen 8 000-Meter-Lauf mit sehr hoher Geschwindigkeit absolvieren.
Ich selbst trainierte diese Form ganz zu Anfang meiner Zeit in China. Meister Li ließ sie mich üben, obwohl ich damit nicht einverstanden war. Nach einer Weile hatte ich genug. Ich erklärte Meister Li, dass ich mir für diese Art des wushu zu schade sei. Ich kam mir veralbert vor. Anfangs war Meister Li nicht sehr froh, dass ich ihm meine Meinung so offen sagte. Er antwortete, dass ich für die »richtigen Sachen« noch nicht das nötige jibengong (基本 功)14 hätte. Natürlich braucht man für die guidingquan auch gewisse Grundlagen, und man muss schon ein guter Athlet sein, um sie zu meistern, aber für die traditionellen Formen braucht man eben noch ein bisschen mehr. Man benötigt explosive Kraft (baofali), während man in den modernen Formen mit seinen Techniken mehr »malen« (画拳) wird. In den alten Formen gibt es Anwendungen, in den neuen Formen wird darauf nicht mehr eingegangen. So trainierte ich in der Folge drei Jahre traditionelles jibengong und ließ das aus meiner Sicht fruchtlose Guidingquan-Training weg.
Später kam ich dann endlich in Berührung mit der Adlerfaust (yingquan) usw., also zu den interessanten Sachen neben dem baguazhang, welches ich von Anfang an trainieren konnte. Es dürfte nur wenige Nichtasiaten geben, die im baguazhang eine ähnlich gute Ausbildung genossen haben wie ich bei Meister Li. Dies bestätigten auch andere Meister, die mitunter beim Training zuschauen kamen. Manche von ihnen sagten, selbst Chinesen würden nur noch selten diese Art des baguazhang beherrschen. Auch das ist ein Tribut an die neue Zeit.
Wushu und Sport
In China habe ich sowohl in der Sportuniversität15 trainiert, wo chinesisches wushu als Fach vertreten ist, als auch im staatlichen Profiverband. Dort traf ich einige der besten heutigen Sportler des »wushu«. In diesem Verband wird das Training von sehr jungen Trainern geleitet, wobei die älteren Schüler dann wiederum die jüngeren Schüler anleiten. Die blühende Phantasie der jungen Trainer führt z. B. dazu, dass Breakdance in die ohnehin schon veränderten Formen integriert wird. Im hinteren Büro sitzen eventuell einige alte Lehrer, die darüber lachen und sagen, dass man sie machen lassen soll. Das ist bedauerlich, denn nur die Alten könnten diesen Verfall stoppen.
Die heutigen Wushu-Formen, von denen jedes Jahr immer wieder neue entwickelt werden, sind inhaltslos, ohne jede Bedeutung, so dass eigentlich jeder Turner oder Breakdancer interessantere Bewegungsformen entwickeln könnte. Wohin solch eine Entwicklung führen kann, sieht man im amerikanischen System Extreme Martial Arts (XMA)16. Zugegeben, sowohl die XMA-Artisten als auch die Kampfsportler demonstrieren oft eine beeindruckende Körperbeherrschung, wobei sich diese beiden Richtungen immer mehr annähern. Sie bewegen sich anmutig und virtuos, was man von den kampforientierten Wushu-Meistern nicht immer sagen kann.
Ohne jede Beschönigung muss gesagt werden, dass das »moderne« wushu nichts weiter als Gymnastik bzw. Akrobatik ist, was auch zur Folge hat, dass nur junge Leute