Es war ein wenig wie in der Französischen Revolution (1789 - 1799), bei der man mit gutem Vorsatz den feudalabsolutistischen Staat abschaffte und grundlegende Werte und Ideen (wie die allgemeinen Menschenrechte) propagierte und trotzdem großes Unrecht beging. So, wie damals nicht jeder Adelige ein Schmarotzer war, galt das auch für viele Kampfkunstmeister, unter denen sich z. B. Ärzte und Apotheker befanden. Man kann die jahrelangen Misshandlungen aber nicht nur mit fehlgeleiteten Erneuerern erklären. Vielmehr spielten Neid, Missgunst und Hass eine große Rolle. Wenn es nur um Umerziehung gegangen wäre, hätte man die Meister im Arbeitslager nicht ununterbrochen demütigen müssen. Ich werde auf das Thema Kulturrevolution im Anhang des Buches zurückkommen (S. 337 ff.).
Oft heißt es, dass sich das alte wushu in Gegenden wo es keine Kulturrevolution gab, z. B. in Taiwan, teilweise erhalten konnte. Das ist richtig. So ist unter anderem der ältere Wushu-Bruder von Xiong Daoming (ein Lehrer von Meister Li, über den noch ausführlich Rede sein wird) als Leibwächter von Jiang Jieshi (蒋介石)20 mit nach Taiwan gegangen. Aber generell ist hier Vorsicht angebracht, denn viele der Lehrer, die sich darauf berufen, ursprüngliches wushu zu unterrichten, sind sogenannte jianghu pianzi (江湖骗子), Scharlatane des wushu.
Ausgespähte Geheimnisse
Die Kampfkünste bargen zu keiner Zeit Geheimnisse im Sinne von »übernatürlichen« Techniken. Gerade aus diesem Grund aber trainierte man die Kampftechniken oftmals im Verborgenen und gab sie nur innerhalb der Familie oder an auserwählte Schüler weiter. Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich leicht lösen. Die Anatomie der Menschen ist überall gleich. Nur in unseren Erfahrungen und unseren Einsichten unterscheiden wir uns. Daher war es sinnvoll, eine Technik, die prinzipiell jeder lernen konnte, geheimzuhalten. Bei einer Kampfkunst ist das Moment der Überraschung überlebenswichtig. Um sich nicht überraschen zu lassen, versuchten die Meister, möglichst viel von anderen Kämpfern auszukundschaften. Das wird teilweise bis heute so gemacht. Das ist zugegebenermaßen nicht immer »die feine Art«, doch, wie gesagt, kann viel davon abhängen. Es geht in den Kampfkünsten selten so hochherzig zu, wie man es sich erzählt. Wer nicht alles für eine bessere Ausgangsposition oder auch für den Sieg zu tun bereit ist, hat in dieser Welt schlechte Karten.
Als ich einmal mit meinem Wushu-Bruder, Cheng Jianping, bei dem bekannten Shaolin-Meister Shi Deyang (释德扬) zu Besuch war, versuchten wir, ihn mit Fragen aus der Reserve zu locken. Er kannte uns nicht und wusste auch nicht, wer unser Meister war. Wir hatten es nicht auf irgendwelche Sachen abgesehen, wie Shi Deyang sie gern im Fernsehen demonstrierte. Wir wollten sein wirkliches Wissen, seine Techniken und Kampfprinzipien. – Später gesellte sich Meister Li hinzu. Shi Deyang erhob sich und bot ihm einen Platz an. Während der Unterhaltung erfuhr der Mönch, dass Cheng Jianping und ich Schüler von Meister Li waren. Meister Shi gefiel es überhaupt nicht, dass wir so ahnungslos getan hatten. Er fühlte sich zu Recht hintergangen. Von diesem Augenblick redete er mit Cheng nur noch sehr wenig und mit mir überhaupt nicht mehr. Als Ausländer durfte ich mir noch viel weniger herausnehmen als mein Wushu-Bruder.
Andere Meister hingegen, wie mein eigener shifu oder auch der Xingyi-Meister Wu (吴老师) aus Shandong, die technisch sogar ein höheres Niveau haben als Shi Deyang, sind bei weitem nicht so verschlossen wie dieser.
Wie gesagt, was wir bei Meister Shi Deyang taten, war und ist nichts Ungewöhnliches. Selbst hoch verehrte und geachtete Größen wie Meister Ai (艾师父) oder Meister Zhang Kejian (siehe S. 138 ff.) sind sich nicht zu schade für diese Art der Bereicherung ihres Repertoires. Meister Zhang wird von vielen sogar als pantu (叛徒, Verräter) bezeichnet, da er sich wirklich oft am Wissen anderer Meister bediente.
In den alten Tagen des wushu wurden die eigenen Kenntnisse wie ein Schatz gehütet. Das galt aber nicht nur für China. Auf Okinawa, Hawaii, den Kanaren oder den Philippinen trainierte man im Geheimen, da jede Ausübung einer Kampfkunst strengstens verboten war. Überall dort, wo ein Volk ein anderes zu beherrschen sucht, ist es eine Notwendigkeit, sein eigenes Wissen zu schützen und gleichzeitig Kampftechniken vom Gegner zu übernehmen. Wenn es hart auf hart kam, hatte man nur sein Wissen und sein Können, um sich zu verteidigen.
Von Meister Zeng Tianyuan ist überliefert, dass er einmal einen Kämpfer heimlich beim Training beobachtete. Er studierte dessen Technik, und als er dann beim dalei (打擂), einem Kampf ohne Regeln (siehe S. 99 ff.), auf ihn traf, konnte er ihn sehr schnell töten.
Es geht natürlich nicht immer um Leben und Tod. Oft will der »Spion« einfach nur lernen. So wurde der Diener Yang Luchan21 von seinem Arbeitgeber Chen Changxing22 als Schüler akzeptiert, nachdem sich Chen davon überzeugt hatte, dass Yang durch heimliches Beobachten schon tief in die Geheimnisse des Familienstils (chen taiji) eingedrungen war.
Ganz ähnlich klingt eine Geschichte aus dem yongchunquan (詠春拳). Chan Wahshun23, ein Geldwechsler, liebte die Kampfkünste sehr. Neben seiner Wechselstube unterrichtete Meister Leung Jan24 einige Schüler. Chan pflegte den bekannten Lehrer heimlich durch ein Loch in der Wand zu beobachten. Nach einem Vergleichskampf mit einem der Söhne des Meisters nahm Leung Jan den Geldwechsler als Schüler an. Sehr ähnlich ist auch die Geschichte von Motobu Choki25 und seinem Lehrer Matsumora26 .
Heute spielt so etwas sicher nicht mehr eine solch große Rolle, doch die alten Lehrer haben das noch kennengelernt. Meister Li lernte oft viele Monate lang nur eine einzige Technik. Dafür musste er seinen Lehrer versorgen, sich um ihn kümmern, und das rund um die Uhr. Viele der alten Meister haben das gleiche durchmachen müssen. Es ist also kein Wunder, dass sie auch heutzutage nicht dem Erstbesten Informationen über ihren Stil und ihre Technik geben.
zhi you gong fu zhen, tie bang mo cheng zhen
Nur wenn das Gongfu echt ist, schleift sich der Eisenstab zu einer Nadel.
Geschichten vom Gongfu
Die Essenz des wushu ist das gongfu (功夫). Das mag für westliche Ohren befremdlich klingen, hat man sich doch sehr an den Begriff gongfu bzw. kungfu als Bezeichnung für die chinesische Kampfkunst gewöhnt. Gongfu ist jedoch kein Stil und keine Kampfmethode. Es ist auch nicht der Oberbegriff für alle Kampfarten Chinas. Bis heute zeugt die Verwendung dieses Wortes von einem großen Unverständnis der chinesischen Kultur gegenüber. Ein wenig haben wir das dem »Kleinen Drachen«, Bruce Lee27, zu verdanken, der den Begriff gongfu allgemein bekannt machte. Allerdings gebrauchte er ihn in seinem tatsächlichen Sinne. Letztendlich passte er sich den pragmatischen Menschen der westlichen Welt an, für die es damals zu umständlich war, zwischen den Feinheiten der fremden Begriffe zu unterscheiden. Daher ist eine Richtigstellung heute sehr schwierig.
Allgemein wird gongfu mit harter Arbeit übersetzt. Diese Deutung ist jedoch nicht ganz vollständig. Es ist auch ein zeitlicher Begriff und bringt zum Ausdruck, dass man sich erst nach langer Zeit und durch harte Arbeit bestimmte Fähigkeiten aneignen kann und sich nur allmählich körperlich und geistig weiterentwickelt. Daher ist gongfu nicht nur die Essenz des wushu, sondern die des Lebens im allgemeinen. Ob nun Kampfkunst, Malerei oder Musik, alle Aktivitäten des Menschen erfordern gongfu, Zeit und harte Arbeit. Schon Platon verwies darauf, dass die Jugend unter anderem bei ihren Leibesübungen beharrlich bleiben und nicht ständig Neuem hinterherjagen sollte, nur weil es neu sei. Im Chinesischen sagt man beispielsweise: »Ta de gongfu hen hao« (他的功夫很好). –»Sein gongfu ist sehr gut.« Dieser Ausspruch, den es ähnlich auch in Japan gibt, bezeichnet die langjährige