Mitte März 2008 brach Börsenpanik aus. »Das Vertrauen in die Weltleitwährung Dollar schwindet«, hieß es in der FAZ (Fehr), gefolgt von der bangen Erwartung, dies werde »vielleicht eines Tages in den Geschichtsbüchern als Symbol des Niedergangs der amerikanischen Hegemonie in Wirtschaft und Finanzen vermerkt werden« (Braunberger). Der Öffentlichkeit dämmerte, es mit der ersten Weltfinanzkrise zu tun zu haben. In den USA beherrschten Insolvenzen, Verstaatlichungen und Übernahmen den Bankensektor. In der Bundesrepublik brüstete sich der Finanzminister Peer Steinbrück noch, die deutschen Banken seien »robust«, während die Kanzlerin die strengere Regulierung des Finanzsektors ablehnte, um »dem Finanzplatz Deutschland nicht zu schaden«. Wie der Blitz schlug am 15. September die Nachricht vom Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers ein. Nun war kein Halten mehr. Die Kreditkette riss zuerst in den USA, dem Erbhof des Weltkapitalismus und Sitz der Zentrale seines Finanzsystems, unmittelbar gefolgt von der Londoner City und den britischen Großbanken, aber auch von Island, dessen Banken zuletzt über Goldesel zu verfügen schienen.14 Der Krach sparte auch die Schweiz als einen der ›sicheren Häfen‹ des Finanzkapitals nicht aus. Ihre beiden Großbanken UBS und Crédit Suisse gerieten an den Rand des Zusammenbruchs. Unter wildestem Auf und Ab an den Börsen der Welt, begleitet von Bankenzusammenbrüchen und -übernahmen, hatte die Finanzkrise den Nexus der bürgerlichen Gesellschaft, das Geldsystem, an den Rand des Abgrunds geführt.
14 »Iceland adopted neoliberal financialization and speculation to the hilt and saw an excessive growth of its banking and finance sectors with total assets of its banks growing from 96 percent of its GDP at the end of 2000 to nine times its GDP in 2006« (Foster/Magdoff 2008; dt. 2009b, 28).
Die blinde Dialektik dieses Prozesses zeigt sich darin, dass es die vermeintliche Entschärfung des Risikos war, die das Risiko schließlich unkontrollierbar machte. Die Kreditgeber verteilten die unsicheren und ungesicherten Forderungen auf viele fremde Schultern. Sie bündelten ihre Darlehen zu handelbaren Wertpapieren, in denen alles Konkrete der Beziehung zwischen Schuldner und Gläubiger ausgelöscht und auf den einzigen Punkt reduziert war, dem Käufer des Kreditbündels eine bestimmte Verzinsung zu versprechen. Die Rating-Agenturen, Standard & Poor’s an der Spitze, versahen die Bündel mit Bestnoten. Die Banken, die solche lukrativen Pakete fast überall in der Welt begierig abkauften, schlossen Kreditausfall-Versicherungen ab (CDS), die ihrerseits gehandelt und so weiterverteilt werden konnten. Auf der Spur dieser weltweiten Streuung des Risikos mündete die Kettenreaktion der Finanzkrise in den Flächenbrand des globalen Finanzwesens. In ihrer abgeleiteten und handelbar gemachten Form hatten die Schuldenbündel plötzlich keinen Preis mehr, weil niemand mehr zwischen werthaltigen und wertlosen Schuldverschreibungen zu unterscheiden vermochte. Die Banken mussten die entsprechenden Activa in ihrer Bilanz auf null setzen. Stillstand des Ausleihverkehrs zwischen den Banken war die Folge. Weltweit erstarrte die Kreditvergabe.
Im August 2008 schätzte der Hedge-Fonds Bridgewater die Summe der gefährdeten Kredite auf 27 Billionen USD (SZ, 9.8.2008). Das war fast das Fünfhundertfache der geschätzten Zahlungsausfälle von sog. Sub-Prime-Schuldnern. Die Investitionsbanken hatten ihr Kapital mit einem Hebel von durchschnittlich 1 zu 24 eingesetzt, Bear-Stearns sogar im Verhältnis von 1 zu 35. In der Kontraktion wirkten die Kredithebel umgekehrt. »Für jeden Dollar, den sie mit Subprime-Papieren verlor, musste die typische Investmentbank […] andere Vermögenswerte im Wert von 24 Dollar verkaufen« (Eichengreen 2008). Jeder Notverkauf erzwingt in solchen Fällen weitere Notverkäufe. Nun brach eine jener Geldkrisen aus, von denen Marx in einem Zusatz zur 3. Auflage von Kapital I sagt, dass »deren Bewegungszentrum das Geld-Kapital ist, und daher Bank, Börse, Finanz ihre unmittelbare Sphäre« seien, während sie »auf Industrie und Handel nur rückschlagend« wirken (23/152, Fn. 99). Allerdings taten viele Industrien in den USA sich seit langem schwer, und der Welthandel produzierte ein immer größeres Ungleichgewicht. Der Boden in der Produktionsökonomie war also bereitet für einen jener schweren Einbrüche, bei denen in den Worten von Marx »auf entgegengesetzten Polen […] unbeschäftigtes Kapital auf der einen und unbeschäftigte Arbeiterbevölkerung auf der andren Seite« stehen (K III, 25/261). Im Sommer 2009 stand ein Drittel der US-Kapitalausrüstung still, während 17 Prozent der Arbeitskräfte entweder arbeitslos oder in Teilzeit beschäftigt waren, wenn sie es nicht überhaupt aufgegeben hatten, Arbeit zu suchen (Harvey 2009).15
15 Die unter Clinton reformierte US-Arbeitslosenstatistik führt nicht nur die Resignierten, sondern auch alle diejenigen nicht mehr auf, die in der letzten Woche einen Minijob hatten.
Dass die Finanzkrise im Weltzentrum des Kapitalismus, den USA, ihren Ausgang nahm, machte es unmöglich, sie wie ihre Vorgängerinnen auf die asiatischen und anderen Schwellenländer abzuschieben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Einfrieren der Kreditflüsse von der Finanzsphäre auf Industrie und Handel zurückschlagen und die Weltwirtschaft in eine allgemeine Krise stürzen würde. Der partiellen Vernichtung fiktiven Kapitals folgte die von industriell fungierendem Kapital mitsamt den an diesem hängenden Arbeitsplätzen auf dem Fuße.
2. Neoliberalismus – momentan »mit null multipliziert«
Momentan schien es, als hätte für Ideologie und Praxis des Neoliberalismus die letzte Stunde geschlagen. Nach den dreißig ›goldenen Jahren‹ des fordistischen Keynesianismus hatte er die darauf folgenden dreißig Jahre des Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus beherrscht. Im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen war zu lesen, der »amerikanische Kapitalismus« habe, »weitgehend unbedrängt von staatlicher Kontrolle, seine eigenen Selbstmordattentäter hervor[gebracht], deren Sprengsätze, die Derivate, selbst noch die Wirkung der fliegenden Bomben der Dschihadisten übertreffen. Nicht nur New York, die ganze Welt hat einen neuen ›Ground Zero‹16: Wallstreet.« (Kohler 2008) Stand eine Revolution vor der Tür? »Sieben Tage, die den Kapitalismus erschütterten«, überschrieb El País, die globale spanischsprachige Tageszeitung, ihre Wirtschaftsbeilage in Anspielung auf John Reeds Zeitzeugenbericht über die Oktoberrevolution von 1917. Kündigte sich der Zusammenbruch des Kapitalismus an? Für den neoliberalen Marktfundamentalismus jedenfalls war laut Joseph Stiglitz die Bankenkrise, »was für den Kommunismus der Fall der Berliner Mauer war« (16.9.08).
16 Zur Erinnerung: »Ground Zero« hieß in der Sprache der US-Armee das von ihr nuklear vernichtete Hiroshima. In einem Akt sprachlicher Opferenteignung übertrug man den Term nach 11/9 auf die Trümmerstätte der New Yorker Zwillingstürme.
Aus dem bürgerlichen Lager der Bundesrepublik hat einer der FAZ-Herausgeber, Frank Schirrmacher, dem Moment der politisch-ökonomischen Doppelkrise den schärfsten Ausdruck verliehen: »Was Aktienbesitzern jetzt schwant, dass sie nach Jahren der Akkumulation nichts mehr besitzen, gilt ebenso für unser Handeln und Denken.« (2008a) Zur Jahrhundertwende hatte er noch den mythischen Allmachtphantasien der »New Economy« rhetorischen Auftrieb gegeben, die Internet-Spekulationsblase geistig verdoppelt und die Goldgräberstimmung der Informationsrentensucher17 angeheizt (vgl. HTK I, 89ff). Doch nun, im Moment der Panik vom Herbst 2008, verzeichnete er wie ein Seismograph das Tiefenbeben, dessen Fernwirkungen anderswo noch nicht so deutlich registriert worden waren.