Friedrich Engels hat die Grenzen »der Beurteilung von Ereignissen und Ereignisreihen aus der Tagesgeschichte« an der Unmöglichkeit festgemacht, »den Gang der Industrie und des Handels auf dem Weltmarkt und die in den Produktionsmethoden eintretenden Änderungen von Tag zu Tag derart zu verfolgen, dass man für jeden beliebigen Zeitpunkt das allgemeine Fazit aus diesen verwickelten und stets wechselnden Faktoren ziehen kann, Faktoren, von denen die wichtigsten obendrein meist lange Zeit im Verborgenen wirken, bevor sie plötzlich gewaltsam an der Oberfläche sich geltend machen« (1895, 8/511). Jeder Versuch »einer zusammenfassenden Tagesgeschichte« schließe »unvermeidlich Fehlerquellen in sich«, fährt Engels fort, »was aber niemanden abhält, Tagesgeschichte zu schreiben« (512). Weiter geht der Gefangene Gramsci in seinen Gefängnisheften, wenn er davor warnt, es könnte »sich gerade das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen« (Gef 6, 1367). Auch wir, die wir uns unter unvergleichlich besseren Bedingungen an der »Tagesgeschichte« versuchen, verhehlen uns nicht, dass unser Bericht »bestimmt Ungenauigkeiten, falsche Annäherungen, Anachronismen enthalten« wird (ebd.).8
8 Zu den eher harmlosen Ungenauigkeiten werden die Zahlen gehören, die im Folgenden immer wieder auftauchen werden. Die den Tagesveröffentlichungen entnommenen Summen und Prozentsätze dienen als Anhaltspunkte, an denen sich Entwicklungstendenzen ablesen lassen. Da wir keine wirtschaftshistorische Abhandlung, sondern einen Beitrag zum philosophisch reflektierten Gegenwartsverständnis vorlegen wollen, trösten wir uns mit Paul Krugmans Diktum, Wirtschaftsstatistik sei eine Form von Science Fiction, bloß nicht so unterhaltend. »All economic statistics are best seen as a peculiarly boring form of science fiction, but China’s numbers are more fictional than most. I’d turn to real China experts for guidance, but no two experts seem to be telling the same story.« (Krugman 2011f)
Gerade indem wir dieses Risiko eingehen, widerstehen wir jenem »markttechnischen Determinismus«, der Gedächtnislosigkeit generiert, von dem Armand Mattelart spricht.9 Wenn die kommerzialisierte Kultur unterhaltender Zusammenhangslosigkeit uns als zerstreute Konsumenten möchte, so hat das Internet einen ähnlichen Effekt. Eine schlichte Frage an die Suchmaschine überflutet den Fragenden mit Antworten, die ihm immer neue Eingänge weisen. Hier lässt sich erfahren, was schlechte Unendlichkeit heißt. Alles scheint erreichbar, nichts greifbar. Ein jedes ist dazu bestimmt, alsbald dem nächsten Platz zu machen.
9 Vgl. Mattelart 2003, 141. »Der Diskurs, der die Informationsgesellschaft begleitet, hat das Prinzip der tabula rasa zum Gesetz erhoben. Es gibt nichts, was nicht veraltet wäre.« (Ebd.)
In dieses Meer der Meinungen wirft begriffliches Denken den Rettungsring der Erfahrung. Es stellt den Zusammenhang der Phänomene in der Gegenwart her, wie die Erinnerung ihren Zusammenhang auf der Zeitachse. Nach der Verwünschung des Wissens in Information, geht es ihm darum, Information zum Wissen zu erwecken und dieses zum Nachdenken zu bringen. Da mit der Ökonomie der tonangebenden Ökonomen, die über keine Krisentheorie verfügen, sich in der Großen Krise nichts Vernünftiges anfangen lässt und da »in den letzten 30, 40 Jahren eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert« worden ist (Hobsbawm 2009), schalten wir nach einer ersten Phänomenbeschreibung der Krise ein Kapitel über marxsche Krisentheoreme ein. Ohne eine elementare Kenntnis derselben würde unsere im Material der Zeit arbeitende Erkundung unverständlich. Theoriegeleitet zu verfahren, heißt nicht, aus Theorie abzuleiten. Wir brauchen die Theorie teils da, wo sie das Material ins rechte Licht rückt, teils dort, wo das Material die theoretischen Deutungen zurechtrückt. Vom Material ausgehend, experimentieren wir mit theoretischen Annahmen und unterziehen diese der Wirklichkeitsprobe. In diesem Sinn gehen wir zum Beispiel im ersten Teil mit dem marxschen Begriff der »Überakkumulation von Kapital« (25/261) oder im zweiten Teil mit Gramscis Begriff der Hegemonie ans reale Geschehen heran.
Wird sich die Idee vor der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit vor der Idee blamieren? Das kommt darauf an, was wir unter Wirklichkeit verstehen. Denken wir sie als Faktizität, mag es so aussehen, als blamierten sich die Begriffe. Denken wir Wirklichkeit als Wirkendheit, kann die faktische sich vor dem Begriff blamieren wie eine stümperhafte Politik vor der Idee der Hegemonie, der ein Bild glückender Politik innewohnt. Die das Geschehen begrifflich durchdringende Darstellung wird dann zur Kritik. Denn in begrifflichem Denken spielt der schwache utopische Impuls, dass es vernünftig zugehe in der Welt. Freilich ist die Wirklichkeit des Vernünftigen, wie Hegel sie verkündet, »nichts Vorausgesetztes, sondern ein unablässiges fortschreitendes Gemacht-Werden« (Gef 5, 1120), wie Gramsci sagt, und dazu eines, das in der antagonistischen Gesellschaft sich ein ums andere Mal durchkreuzt findet und jederzeit auf dem Sprung zu sein hat, neu zu entspringen.
Um solcher Durchkreuzung zu entgehen, hat Slavoj Žižek der Occupy-Bewegung empfohlen, keine konkreten Forderungen zu erheben, weil »jede im Hier und Jetzt geführte Debatte notwendigerweise immer eine Debatte auf feindlichem Gebiet bleiben« müsse (2011). Doch die Auswanderung aus dem Hier und Jetzt ins Nie und Nimmer ist nicht die Lösung. Es ist wahr, wir brauchen einen utopischen Atem, um uns nicht im Hier und Jetzt zu erschöpfen. Doch den Ort der Gefahr, die es zu wenden gilt, können wir nicht fliehen. Bewegt sich unsere Untersuchung auf »feindlichem Gebiet«? Man wird sehen, dass diese Ortsbeschreibung zu simpel wäre. Gewiss, wir verlassen die Gefahrenzone nirgends. Doch sie ist nicht unumstritten in der Hand jenes »Feindes«, von dem Benjamin sagt, dass er »zu siegen nicht aufgehört hat« (I/2, 695). In der Zeit, von der wir handeln, hat dieser Feind die Gestalt der Auslieferung des menschlichen Gemeinwesens und seines Lebensraumes an die ›Märkte‹ angenommen.
Danksagung
Am Ende bleibt mir die angenehme Pflicht, all denen Dank zu sagen, die aus den unterschiedlichen Wissensgebieten, die unser Thema berührt, mit fachkundigem Rat geholfen haben. Wolfgang Küttlers geschichtstheoretische Bemerkungen waren wichtig für die Reflexion des Problems der Gegenwartsgeschichte und der formationstheoretischen Aspekte. Bei der Bearbeitung der ökonomischen Passagen waren die kritischen Kommentare und Anregungen von Karl Georg Zinn und Mario Candeias eine herausfordernde Hilfe. Fachmännische Ratschläge zur Behandlung der finanztechnischen Aspekte kamen von Stefan Böhmerle von der Berenberg Bank und Alexander Henke von der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen. Jan Rehmann und Ingar Solty gaben mit ihren ortskundigen Einwänden und Vorschlägen wichtige Hinweise zur Überarbeitung der USA-Kapitel, deren erste zwei schon in einer früheren Fassung den Gesprächen mit Andreas Novy viel verdanken. Beim Chimerika-Kapitel haben mich Ivo Hammer und, mit sinologischer Kompetenz, Wolfram Adolphi unterstützt. Viel zu danken habe ich Jan Loheit, der das gesamte Buch lektoriert, das Namensregister erstellt und – wie auch Juha Koivisto – mich mit Literatur versorgt hat. Frigga Haug hat die Entstehung des Buches von Anfang an mit begeistert-herausforderndem Echo unterstützt und mir in der Schlussphase zudem den Rücken freigehalten. Martin Grundmann hat mit bewährter Sorgfalt Umschlag und Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.
Los Quemados, im Februar 2012 Wolfgang Fritz Haug
Erstes Kapitel
Erscheinungsformen der Krise
Der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammen brach, wird den Lauf der Geschichte mehr verändern als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen.
Eric Hobsbawm (2009)
Oder wie kommt es, dass der Handel, der doch weiter nichts ist als der Austausch der Produkte verschiedener Individuen und Länder, durch das