Karl Marx und Friedrich Engels (1845)
1. Chronik eines angekündigten Zusammenbruchs
Als schliefe das Ungeheuer noch und könnte durch ein weniger verstörendes Wort im Schlaf gehalten werden, zog noch im vierten Krisenjahr »die Mehrheit der Politiker und Journalisten es vor, von ›Rezession‹ zu sprechen« (Jackson 2011).10 Doch es scheint eher ihr eigener Schlaf gewesen zu sein, den sie mit dieser Illusion zu schützen versuchte.
10 Immanuel Wallerstein dagegen sagte 2009 voraus: »The depression into which the world has fallen will continue now for quite a while and go quite deep. It will destroy the last small pillar of relative economic stability, the role of the U.S. dollar as a reserve currency of safeguarding wealth.« (Wallerstein 2009, 13) Dann werde es den Regierungen überall auf der Welt darum gehen, »to avert the uprising of the unemployed workers and the middle strata whose savings and pensions disappear.« (13f) Auch Joachim Hirsch erkannte in der Krise »auf jeden Fall die Dimensionen ihrer Vorgängerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« und prognostizierte, sie werde »dazu führen, dass der Kapitalismus eine ganz neue Gestalt annimmt« (2009b).
Die Ereignisse folgten der Chronik eines immer wieder angekündigten Zusammenbruchs, der dennoch überraschend kam. Unerwartet waren zumal der Hauptschauplatz und das Ausmaß. Eine 1999 im Argument erschienene Soros-Besprechung beginnt mit den Worten: »Seit dem Ausbruch der asiatischen Finanzkrise 1997 befragen wir uns […] über die Natur des Hurrikans, der die Transitions- und Schwellenländer von Südostasien über die Ex-UdSSR bis Lateinamerika heimsuchte. Handelt es sich um eine globale Finanzkrise oder vielmehr um Einzelphänomene […]? Bleiben wir, das ›Zentrum‹, von der Krise der ›Peripherie‹ unberührt?« (Nies 1999, 624) Schon ein halbes Jahr später erhielt die Frage eine erste Antwort. Im März 2000 wurde das neue Jahrhundert mit dem Platzen der »Dot.com-Blase« eingeleitet. So hieß die Spekulationswelle, die sich im ›Zentrum‹ des Weltkapitalismus am explosiven Wachstum des Internet in den 1990er Jahren und an den darauf bezogenen Firmengründungen und Phantasien einer ganz neuartigen, ununterbrochene Konjunktur versprechenden Wirtschaftsweise, der »New Economy«, entzündet hatte. »Mobiltelephonie, Computersoftware oder Medienbusiness« zogen die Anleger an; vor allem das Internet als die tendenziell global sich vernetzende informationelle Infrastruktur erschloss neue Geschäftsfelder, und wie es schien, »lauerten in diesem noch unaufgeteilten Markt selbst für Newcomer große Expansions- und Gewinnchancen« (Wagenknecht 2008, 72). Doch dann zirkulierten »Todeslisten« für Internetfirmen, und an den Börsen regierte die Kapitalvernichtung. Dieser Krisenauftakt und seine Bewandtnisse sind im Ersten Buch unserer Untersuchung (HTK I, 92ff) ebenso analysiert wie die sich überschlagenden Illusionen vermeintlicher Krisenfestigkeit der »Neuen Ökonomie«.
Frei nach Hyman Minskys Theorie der Finanzblasen glaubten die Finanz- und Wirtschaftspolitiker der Vereinigten Staaten, auf die nächste Spekulationswelle umsteigen und darauf weitersurfen zu können. Nach dem Platzen der Internetaktienhausse und den Terrorakten vom 11. September senkte die US-Notenbank, die Federal Reserve (Fed), ihren Leitzins auf 1 Prozent, um die Konjunktur über die Konsumnachfrage am Laufen zu halten. Nachdem nun auch der Leitzins für langfristige Hypotheken sank, kündigten Millionen Hausbesitzer ihre Hypothek, was in den USA ohne Strafzins möglich ist, und refinanzierten sie zum günstigeren Zins. Die Haushalte hatten folglich mehr Geld für ihren Konsum zur Verfügung. Viele erhöhten zudem die Hypothek auf ihr Haus und kauften mit dem zusätzlichen Geld »japanische Autos, Küchen aus Deutschland oder einen Anbau ans Eigenheim« (Fehr 2008).
Hinzu kam der Effekt der Carry Trades. In Japan, wo »die kurzfristigen Zinsen von der Zentralbank – wegen Deflationsgefahr – extrem niedrig gehalten« wurden, wurden Kredite zu einem Zins »nahe am offiziellen Notenbankzins von 0,25 Prozent« aufgenommen und u.a. gegen US-Dollar getauscht, was deren Kurs hochtrieb (Flassbeck 2007). Dieser Transfer trug in den USA zur Verbilligung der Kredite und damit zur Vermögenspreisinflation bei.11 Mit dem geliehenen Geld kauften Investoren »rund um den Globus Aktien, Unternehmens- und Schwellenländeranleihen, Rohstoffe, ganze Unternehmen« und trieben dadurch »die Preise der Vermögenswerte nach oben«12. Die Immobilienpreise stiegen scheinbar unaufhaltsam, und das zweistellig. Mit ihnen wuchs der Kredit der Hausbesitzer. Das System nährte sich selbst. Jede Wertsteigerung wurde zum Hebel für die nächste. Es war, als hätte man endlich das Perpetuum mobile des Kapitalismus erfunden. Die Hauspreise dienten als Basis aller möglichen neuen Konsumentenkredite.13 In der Konkurrenz ums Geldanlegen nahmen die Banken diese Buchwerte als Sicherheiten für weitere Kredite. Das Finanzsystem pumpte sich voll mit Krediten, die Hausse nährte die Hausse. Die Realökonomie boomte, die Rohstofflieferanten gediehen. In den USA wuchs mit der Immobilienhausse der Bausektor. Dort entstanden viele Millionen neue Arbeitsplätze. Das war hochwillkommen. Denn durch die Globalisierung gingen gleichzeitig ungezählte Arbeitsplätze verloren. Den jungen Paaren und den Immigranten in den USA, die bei den hohen Hauspreisen nicht mithalten konnten, offerierten die Banken die nachmals berüchtigten »Subprime«-Hypothekenkredite. Die Zinsen waren zunächst niedrig, sollten erst nach 2-3 Jahren angehoben werden. Fehr hebt das aktive Gewährenlassen seitens der Regierung und der diversen damit befassten Staatsapparate hervor: »Die Aufsichtsbehörden schauen zur Seite. Die Regierung, die einen unpopulären Krieg im Irak führt, will die Bürger über eine gut laufende Wirtschaft bei Laune halten.«
11 »Mit dem künstlich überbewerteten Dollar kaufen Amerikas Konsumenten im Ausland ein, was das Zeug hält. Das US-Leistungsbilanzdefizit steigt auf 6 % der Wirtschaftsleistung.« (Fehr 2008)
12 Dies und das Folgende nach Fehr 2008.
13 »Über zusätzliche zweitrangige Hypothekenkredite (Home Equity Lines) ermöglichen es die Banken Haushalten, den erhöhten Wert des Eigenheims in Bargeld umzumünzen. […] Der kreditfinanzierte Konsumrausch grassiert, die Sparquote geht gegen null.« (Fehr 2008)
So schien die Immobilienblase die Explosionsfolgen der vorangegangenen Internetblase aufs Wunderbarste wettzumachen. Basierend auf der Doppelfunktion des US-Dollars, nicht nur als nationale Landeswährung, sondern zugleich als Weltwährung zu fungieren, wurden die US-Banken im Zeichen des »Dollar-Wallstreet-Regimes« (Gowan 2007, 156) zum ertragreichsten Wirtschaftssektor des Landes. Unter anderem bündelten sie Millionen von Hypotheken zu einer neuen Form handelbarer Wertpapiere, für die sie beim anlagesuchenden Finanzkapital aus aller Welt reißenden Absatz fanden. Zu sagen, dies sei »unbedrängt von staatlicher Kontrolle« (Kohler 2008) geschehen, verschließt die Augen vor der Komplizenschaft der Regierung, die dies durch ›Deregulierung‹ ermöglicht und die Banken schließlich geradezu bedrängt hatte, den Kreditrahmen auszuweiten. Kurz, die neoliberale Politik drückte mit der einen Hand die Lohnquote und förderte mit der anderen das Konsumniveau durch Konsumentenkredite. Wir kommen darauf bei der Frage nach den Charakteristika des in die Krise geratenen politisch-ökonomischen Systems zurück. Eben dieses Zentrum, mit der Londoner City im Gefolge, wurde zum Ort, an dem die Große Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise ausbrach.
Der Krach kam auf leisen Sohlen und durch die Haustür von Millionen US-amerikanischer Eigenheimbesitzer. Im Immobiliensektor, aus dem der Kredithandel eine derart einträgliche Geldquelle gemacht hatte, begann das System zu kränkeln. Bereits 2006 wurden in den USA 1,2 Millionen Häuser zwangsversteigert, 45 Prozent mehr als 2005 (FAZ, 14.3.07, 21). Bis dahin hatten billige Kredite die Hauspreise hochgetrieben und hatte der Kredit den Kredit genährt. Doch jetzt, als angesichts der Inflation die Leitzinsen hochgesetzt