Ja, erraten. Er war überhaupt nicht zu Zeit zum Zuhören gekommen, und seine Hand hatte er hinters Ohr gelegt, weil er äußerst schwerhörig war und sein Hörgerät zu Hause vergessen hatte. So etwas kann man sich nicht ausdenken, oder? Mein anschließender, wortreich gestammelter Versuch, ihm zu erklären, wieso ich nicht nur die Anzeichen seiner Schwerhörigkeit offenbar zum Brüllen komisch gefunden, sondern mich auch noch durch das Nachäffen seiner Handgesten über seine Behinderung lustig gemacht hatte, war kein durchschlagender Erfolg. Es kam mir eher so vor, als müsste ich eine hoffnungslos und unlösbar verhedderte Drachenschnur wieder aufdröseln. Ach je.
Der zweite Vorfall war genauso lächerlich, aber aus ihm kann man immerhin die eine oder andere interessante Lehre ziehen. Meine Frau hatte einen Anruf von einer gewissen Mavis erhalten. Mavis war völlig verzweifelt und fragte an, ob sie wohl vorbeikommen und sich für eine Stunde oder so mit Bridget unterhalten dürfe. Etwas später wurde mir ausgerichtet, Mavis sei ein wenig vor der Zeit gekommen, ob ich mich wohl für ein paar Minuten um sie kümmern könnte, bis Bridget Zeit hatte? Eilends machte ich mich auf den Weg hinunter zum Empfangsbereich, wo ich eine attraktive junge Dame mit überraschend klarem Blick vorfand, die in der Sonnenlounge wartete. Na schön, dachte ich, der äußere Schein kann trügen. Sie sieht völlig okay aus, aber wer weiß, was für eine Not unter der Oberfläche schwelt? Ich muss mich sehr behutsam und fürsorglich verhalten.
„Sie müssen Mavis sein“, murmelte ich im besten Therapeutenton.
„Ja“, antwortete sie mit einem Anflug von Unbehagen, den ich vollkommen verständlich fand.
„Ich bin Adrian. Hat Bridget Sie schon gesehen?“
„Äh, ja – ja, hat sie.“
„Und sie will sich in ein paar Minuten mit Ihnen treffen? Ist das richtig?“
„Das hat sie gesagt“, erwiderte Mavis.
Wäre ich nicht sosehr damit beschäftigt gewesen, das arme Mädchen auf keinen Fall aus der Fassung zu bringen, so wäre mir vielleicht aufgefallen, dass der gejagte Ausdruck in ihren Augen der eines Menschen war, der sich versehentlich in ein Irrenhaus verlaufen hat und Ausschau nach dem nächsten Ausgang hält.
„Nun denn“, flötete ich, „wollen wir uns für ein paar Minuten an einen dieser Tische setzen, bis sie frei ist? Wäre Ihnen das recht?“
In diesem Moment hörte ich Bridget von der Tür des Anmeldungsbüros her eindringlich meinen Namen rufen. Ich entschuldigte mich und ging hinüber zu ihr, um zu hören, was sie wollte.
„Ich glaube, das ist die falsche Mavis!“, raunte sie mir zu. „Offenbar ist dieses Mädchen nur mit jemandem hergekommen, um etwas abzuliefern. Ich habe ihr auch schon gesagt, ich käme in ein paar Minuten zu ihr, um mich mit ihr zu unterhalten. Aber gerade hat die richtige Mavis angerufen, um zu sagen, dass sie ein bisschen später kommt.“
So etwas könnte man sich nicht ausdenken, oder? Da kommt diese junge Frau her, um irgendetwas abzuliefern, und wird von zwei Leuten begrüßt, die unerklärlicherweise wie durch Hellseherei ihren Namen kennen, sie behandeln, als wäre sie aus feinstem Porzellan, und ihr mitteilen, sie möge sich etwas gedulden, in ein paar Minuten könne sie sich bei jemandem „aussprechen“. Was mag sie sich bei alledem gedacht haben? Verständlicherweise nutzte sie die Gelegenheit zu einem zielstrebigen Abgang, sodass wir nie dazu kamen, ihr die Sache zu erklären. Wie unwahrscheinlich ist es wohl, dass gleichzeitig zwei Frauen namens Mavis auftauchen? Enorm. Ich wünschte, ich hätte ein paar Mäuse darauf gewettet.
So lächerlich die Situation war – immerhin brachte sie mich ins Nachdenken über den Tonfall, mit dem wir hier den Leuten begegnen. Eine der Selbstverpflichtungen, die wir als Mitglieder dieser Gemeinschaft eingehen, ist, dass wir unser Bestes tun wollen, um alle Gäste so zu behandeln, wie wir Jesus selbst behandeln würden. Niemand soll mehr oder weniger Aufmerksamkeit erfahren als die anderen. Vielleicht sollten sie ja eigentlich alle die „Mavis“-Behandlung bekommen – vorzugsweise, ohne dass sie sich dabei zu Tode erschrecken.
Noch ein Letztes. Bridget und ich haben dieses Jahr während der Karwoche eine Gruppe angeleitet. Am Karfreitag schleppten wir ein großes altes Kreuz hinauf zur Kapelle und legten es vor dem Altar auf den Boden. Eine große Schar von uns setzte oder kniete sich um das Kreuz herum. Wir berührten es behutsam und betrachteten bewusst die Stellen, wo die Hände Jesu und sein Kopf gewesen wären. Dieses Kreuz sah so schutzlos aus, wie es da so ausgebreitet lag, so verlassen und verwundet. Ganz ohne Aufforderung sammelte ein kleiner Junge, der zur Gruppe gehörte, ein paar Kissen ein und legte sie vorsichtig unter die Teile des Kreuzes, wo seiner Meinung nach die Schmerzen am schlimmsten gewesen sein mussten. Ich habe selten in meinem Leben etwas so Schönes gesehen. „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder ...“ Nur zu wahr.
Wie läuft es bei Dir, Jeff? Ich möchte wirklich gern wissen, wie es Dir geht.
Liebe Grüße,
Adrian
ZWEI
Lieber Adrian,
ach du liebe Zeit, da bist Du ja schön ins Fettnäpfchen getreten mit dem armen Kerl, der zu Zeit zum Zuhören kam und sein Hörgerät zu Hause vergessen hatte, was? Wahrscheinlich dachte der, Du hättest Dein Gehirn zu Hause vergessen. Und wie Du dann Mavis angebaggert hast – die arme Frau muss Dich wohl für einen freundlich-versponnenen Lustmolch gehalten haben. Meistens, wenn Du und ich uns so in die Nesseln setzen, liegt es entweder daran, dass wir nicht richtig gelernt haben zuzuhören, oder daran, dass wir zu viele Annahmen voraussetzen.
Ich versuche inzwischen, mich mit meinen Annahmen so weit wie möglich zurückzuhalten. Wenn ich rate, rate ich meistens falsch. Wann immer ich zum Beispiel einer Frau begegne, die schwanger aussieht, habe ich eine goldene Regel: Ich sage kein Wort über ihren Bauch und erkundige mich nicht danach, wann das Baby kommt. Auch wenn es so aussieht, als schleppte sie darin einen ganzen Hauskreis mit sich herum und bereits der Klang leicht verstimmter Gitarrenakkorde aus ihrer gigantischen Leibesfülle zu dringen scheint. Die Gefahr liegt auf der Hand. Es könnte ja auch sein, dass sie einfach nur dick ist. Oder noch schlimmer, an chronischen Blähungen leidet. Dann würde ich mir mit meinen überschwänglichen Glückwünschen zur bevorstehenden Niederkunft nur eine Ohrfeige von ihr einhandeln, falls sie einfach nur eine ausgeprägte Vorliebe für fettes Fast Food mit zuckergesättigten Getränken hat. Falls übermäßige Gasbildung das Problem ist, kommt es vielleicht zu einer plötzlichen Entladung, und ich werde bis nach Scunthorpe gepustet.
Mir ist es auch schon passiert, dass ich rot angelaufen bin, nachdem ich zwei Frauen für Mutter und Tochter gehalten hatte. Ich hüpfte wie Tigger im Ornat in das Krankenhauszimmer, lächelte die Patientin an und begrüßte dann die Dame, die an ihrem Bett stand, mit einem Satz, der schon beim Aussprechen einen deutlich brenzligen Geschmack hatte: „Sie müssen wohl ihre Mutter sein.“
„Nein“, knurrte sie mich an wie die kindliche Hauptdarstellerin in Der Exorzist, „ich bin ihre Schwester, und wer Sie auch sein mögen, ich werde Sie in alle Ewigkeit hassen.“ (Ehrlich gesagt, ich habe Der Exorzist nie gesehen.) Deshalb bemühe ich mich jetzt, keinerlei Annahmen mehr vorauszusetzen und immer erst zu warten, bis mein Hirn mein Mundwerk eingeholt hat.
Von dieser kleinen Regel gibt es eine Ausnahme, die ich von meinem Freund und Kollegen Dary Northrop gelernt habe. Er ist ein Mann von schier unerschütterlicher Heiterkeit und hat einen Doktortitel in emotionaler Intelligenz. Wenn Dary einen Raum voller Leute betritt, ob sie ihm bekannt sind oder nicht, geht er von der Annahme aus, dass sie alle ihn mögen, und zwar so lange, bis ihm einer das Gegenteil zu verstehen gibt. Auf diese Weise begegnet er den Menschen mit einer tiefen Sicherheit, anstatt sinnlos gegen irgendwelche Schatten zu boxen, wie wir es tun, wenn wir das vage Gefühl haben, dass andere nicht viel von uns halten.
Wo wir gerade beim Gemochtwerden sind: Du warst ja so freundlich, Dich zu erkundigen, wie es mir geht, und hast sogar noch freundlicher hinzugefügt, dass Du es wirklich wissen möchtest. Manchmal fragen ja die Leute höflich, wie es uns geht, ohne aber tatsächlich auf eine echte Antwort aus zu sein,