»Dieses Verfahren ist leicht zu beschreiben, wenngleich seine Ausführung Unterweisung und Übung erfordern dürfte. Wenn man es bei anderen, etwa einem Kranken mit einer Angstvorstellung in Anwendung zu bringen hat, so fordert man ihn auf, seine Aufmerksamkeit auf die betreffende Idee zu richten, aber nicht, wie er schon so oft getan, über sie nachzudenken, sondern alles ohne Ausnahme sich klarzumachen und dem Arzt mitzuteilen, was ihm zu ihr einfällt … Es mag also die Aussage genügen, dass wir bei jeder krankhaften Idee ein zur Lösung derselben hinreichendes Material erhalten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit gerade den ›ungewollten‹, den unser Nachdenken störenden, dem sonst von der Kritik als wertlosen Abfall beseitigten Assoziationen zuwenden … Es müsste jedes Traumbeispiel sich in gleicher Weise dazu eignen.«8
Freud zerlegt den Traum in seine Teile, geht einzeln an alle Bruchstücke heran und fragt den Träumer nach seinen Assoziationen.
Selbst kritische Einwände, die der Träumer gegen seine eigenen Einfälle vorbringt, kommen zur Sprache. In diesen kritischen Einwänden wird laut Freud der Widerstand des Träumers deutlich, verdrängte Elemente zu offenbaren.
Auch Adler und andere Psychologen haben diese Technik grundsätzlich anerkannt und praktiziert. Sie birgt zudem folgende Vorteile:
In den Gedankenassoziationen kommen die zielgerichteten Vorstellungen des Träumers zur Sprache, denn der Träumer kann ja nichts anderes in seinen frei strömenden Einfällen beisteuern, als was in ihm angelegt ist.
In den Gedankenassoziationen kommt der Lebensstil dieses Menschen zum Tragen; ohne dass er sich darüber im Klaren ist, geben seine Einfälle das Bewegungsgesetz und die Grundüberzeugungen wieder.
In den Gedankenassoziationen kommen also keine objektiven Vorstellungen zur Sprache, sondern die Mittel, Ziele und Methoden dieses einmaligen Menschen.
Wie sieht die Assoziations-Methode praktisch aus?
Eine Frau träumt. Die ersten zwei Sätze dieses Traumes lauten:
»Es ist Winter. Ich gehe von zu Hause allein eine eisig glatte Straße hinauf.«
Der Berater und Seelsorger kann alle Traumelemente eingehend befragen.
»Sie sprechen vom Winter. Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Sie gehen von zu Hause weg. Was empfinden Sie dabei?«
»Sie sind allein. Wie fühlen Sie sich?«
»Sie befinden sich auf einer eisig glatten Straße. Was löst das in Ihnen aus?«
»Sie gehen eine eisige glatte Straße hinauf. Was hat das alles mit Ihrem Leben und Empfinden von heute zu tun?«
Schon die beiden ersten Sätze sind eine gekonnte Verdichtung der gegenwärtigen Befindlichkeit dieser Frau. Der Traum präzisiert Gefühle, Gedanken und das Handeln der Träumerin. Die Assoziationen bringen ihren kompletten Lebensstil zur Sprache.
KAPITEL 5
Nackt- und Entblößungsträume
Kleider haben eine Bedeutung. Sie schützen den Menschen, sie verdecken ihn. Menschen, die sich eine Blöße geben, die entblößt werden, schämen sich. Entblößungsträume sind also Träume, die eng mit dem Schamgefühl des Menschen und mit seinen Schuldgefühlen verbunden sind. Menschen, die schnell und gern Dinge auf sich beziehen und Schamgefühle als bedrückend erleben, träumen häufiger von Entblößungen.
Die Freud’sche Psychoanalyse hat uns deutlich zu machen versucht, dass Nacktträume in der Regel mit sexuellen Gefühlen oder mit Schuldgefühlen wegen Sex zu tun haben. In Wirklichkeit geht es um die Frage, in welcher Weise der Ratsuchende sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nackt, enthüllt, verletzt, bloßgestellt oder ungeschützt vorkommt. Die Deutung der Entblößungsträume kann deshalb verschieden sein:
Die einen fühlen sich nackt und möchten am liebsten im Boden versinken,
die anderen sind unsicher, fühlen sich nicht richtig angezogen; die Kleidung symbolisiert eine starke Selbstwertstörung,
wieder andere haben sich nicht recht benommen und kleiden den Traum in eine Entblößung,
die Entblößung kann ein unmoralisches Verhalten symbolisieren; der Träumer fühlt sich ertappt und bloßgestellt,
die Unordentlichkeit der Kleider kann einen unordentlichen Lebenswandel widerspiegeln,
die Entblößung kann das Unpassende ins Bewusstsein heben. Jemand fühlt sich in einer Gesellschaft fehl am Platz.
Ich gehöre da nicht hin
Ein Chemiker, der im Forschungslabor eines großen Werkes beschäftigt ist und von seiner Frau zur Beratung gedrängt wurde, hat folgenden Traum:
»Die Firma hat alle leitenden Mitarbeiter eingeladen. Die anwesenden Männer und Frauen sind überaus festlich gekleidet. Alle Frauen tragen lange Gewänder. Die meisten Männer haben sogar eine Fliege umgebunden. Sie stehen zusammen und unterhalten sich angeregt. Ich sehe mich an einem Fenster stehen, mache mir an einer Pfeife zu schaffen und entdecke plötzlich, dass ich nur eine Unterhose anhabe. Einige Herren schauen mich an und schütteln den Kopf. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.«
Wir gehen gemeinsam diesen Traum durch.
»Was ist Ihr Eindruck an der dichtesten Stelle des Traumes?«
Der Ratsuchende sagt: »Ich gehöre da nicht hin! Das ist nicht meine Welt.«
Im Traum bringt der Mann sein Lebensproblem zur Sprache. Die Frau leidet unter seiner Sprachlosigkeit. Der Mann flieht zu Hause in den Keller, in dem er sich ein großes Privatlabor eingerichtet hat. Vor der Tür hängt ein nicht zu übersehendes Schild: »Eintritt verboten!«
Der Chemiker ist ein Einzelgänger und Einsiedler. Partys sind ihm zuwider. Er hasst das oberflächliche Geschwätz der Menschen. Er hasst aber auch das »Aufgeputzte« und »Aufgemotzte«. Für ihn bedecken die langen Kleider der Frauen nur ihre Geistlosigkeit.
Er selbst steht im Traum als Einziger abseits. Die anderen können sich gut unterhalten. Sie haben Gesprächsstoff. Er macht sich an seiner Pfeife zu schaffen.
»Wie erleben Sie diese Szene im Traum?«
Der Chemiker lächelt: »Schon als Student habe ich das Pfeiferauchen angefangen. Ich sehe nur einen Grund: Wenn ich an der Pfeife hantiere, muss ich nicht reden. Ich bin beschäftigt. Ich falle nicht auf.«
»Plötzlich sehen Sie sich in der Unterhose. Was geht in Ihnen vor?«
Der Mann sagt: »Du bist anders als die anderen. Hier hast du nichts zu suchen. Elegante Anzüge und Unterhosen vertragen sich nicht.«
»Und die Herren, die den Kopf schütteln?«
»Die kennen mich. Ich bin als Querdenker verschrien. Sie schütteln den Kopf und lassen mich laufen. Keiner wagt es, mich umzustimmen. Keiner redet mir gut zu.«
An dieser Stelle geht die Frau des Chemikers dazwischen. Bis dahin hat sie ruhig zugehört. »Du gibst dir für dein unfreundliches Verhalten die passenden Erklärungen. Du glaubst, die anderen respektieren deine Frechheit. Nein, sie schütteln den Kopf. Und ich schüttele ihn auch. Du bist verheiratet, und wir haben drei Kinder. Wir alle haben ein Anrecht auf deine Gegenwart. Aber du ziehst dich in deine Laborwelt zurück.«
Der Angriff