»Ich sehe vor mir ein unbegehbares felsiges Etwas, einen zerklüfteten Hügel. Rechts davon läuft ein kleines Wesen weg. Es kann ein Mensch sein. Ich sehe, wie ich den Kopf schüttele. Einen Augenblick überlege ich, wie ich diesen schwierigen Hügel bezwingen kann. Dann nehme ich einen Anlauf, hebe ab und fliege wie im Gleitflug über das Hindernis hinweg. Auf der anderen Seite komme ich gut an und stehe fest auf der Erde. Ich schaue mich um und lächele. Dann wache ich auf.«
Meine Fragen lauten:
»Was ist Ihr Hauptgefühl an der dichtesten Stelle des Traumes?«
Antwort: »Ich wache auf und bin stolz. Ich habe das Problem gemeistert!«
»Wie sehen Sie sich selbst im Traum?«
»Ich spüre, das bin ich. So gehe ich das Leben an. Vor mir ein dickes Problem. Es sieht unlösbar aus. Man hat den Eindruck, es gibt keinen Weg.«
»Wie sehen Sie die anderen, soweit sie im Traum vorkommen?«
»Ja, das ist eine Schwierigkeit bei mir. Die anderen kommen nicht vor. Es sei denn, das flüchtende Wesen war ein Mensch. Leider ist das meine Schwachstelle im Leben. Die Firma interessiert mich, nicht die Menschen. Der Erfolg interessiert mich, nicht die Mitarbeiter. Mein Ehrgeiz frisst mich auf. Da bleiben nicht selten andere auf der Strecke.«
»Wenn das fliehende Wesen ein Mensch war, was sagt Ihnen das Bild?«
»Es könnte meine Frau sein, aber auch die Kinder. Vielleicht sogar Mitarbeiter der Firma, die vor den Problemen kapitulieren. Aber das reizt mich besonders. Ich fliehe nicht, ich will das Unbegehbare gangbar machen.«
»Was tun Sie im Traum?«
»Offensichtlich lasse ich sie laufen. Ich bleibe ja stehen und nehme mir wieder das riesige Problem vor. Mich befriedigt die Arbeit. – Ja, und abends und am Wochenende bin ich allein. Es stimmt tatsächlich, die anderen fliehen vor mir.«
»Welche versteckten Ziele verfolgen Sie? Was wollen Sie erreichen?«
»Ich will komplizierte Sachen meistern. In der Regel weiß ich, wenn ich einen Anlauf nehme, die Ärmel hochkrempele, dann komme ich darüber weg. Unüberwindliches hat für mich einen wahnsinnigen Reiz. Was andere nicht schaffen, das reizt mich besonders.«
»Welche unausgesprochenen Absichten verbergen sich dahinter?«
»Gut sein ist nicht genug. Ich sage es ungern, aber ich will besser als die anderen sein. Und dieses Ziel verleiht mir ungeahnte Kräfte.«
»Mit welchen Mitteln und Methoden verfolgen Sie Ihr Ziel?«
»Mit Wagemut gehe ich an die Sache heran, mit großem Ehrgeiz, das versteht sich von selbst. Ich denke nach, ich denke vorher wirklich gründlich nach. Leider übersehe ich die anderen dabei. Wenn es sein muss, mobilisiere ich alle Kräfte. Ich stecke so leicht nicht auf.«
»Was wollen Sie verändern, wenn der Traum Dinge offenbart, die problematisch sind?«
»An meiner Lebensauffassung will ich nichts ändern. Was mich erheblich stört, sind meine Schwierigkeiten mit Menschen. Mit meiner Frau, mit meinen Kindern und mit Mitarbeitern gibt es laufend Konflikte. In der Regel gehen die mit Gefühl an alles heran. Gefühle haben bei mir aber einen geringen Stellenwert. Mit Gefühlen löst man keine Probleme.«
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Zielgerichtetheit des Traumes wird deutlich. In allem, was der Mensch träumt, verfolgt er Zwecke und Ziele, die er selbst nicht versteht. Aber auch die Beziehungsfähigkeit wird im Traum offenbar.
Nach Adler ist das Gemeinschaftsgefühl ein Barometer für seelische Gesundheit oder Krankheit. Dieser tüchtige und erfolgreiche Manager ist nicht wenig gestört. Der Traum signalisiert ihm, dass die Menschen vor ihm fliehen. Im Spiegel seiner Selbstaussagen werden ihm die Mängel seiner Lebensgestaltung bewusst. Er spürt, dass er sich in die Isolierung hineinmanövriert hat. Die Veränderung seiner Lebens-Grundüberzeugungen braucht viel Zeit. Besonders der Traum hilft ihm, die Bremse zu ziehen, um sein Lebenskonzept zu revidieren. Es ist typisch für ihn, dass er nun wie ein Manager neue Wege im sozialen Bereich strategisch angeht.
Der Traum und das Unbewusste
Träume steigen aus dem Unbewussten hoch. Was heißt das eigentlich? Die Tiefenpsychologen sprechen übereinstimmend vom Unbewussten, doch es gibt Unterschiede in der Bewertung dieses menschlichen Bereichs. Die meisten gehen davon aus,
dass das Unbewusste durch Verdrängung entstanden ist;
dass verdrängte sexuelle Impulse, die dem Über-Ich (dem Gewissen) unangenehm sind, ins Unbewusste gerutscht sind;
dass diese verdrängten Impulse dem Bewusstsein entrissen, aber noch in der Erinnerung vorhanden sind. Sie sind nicht ausgelöscht und können in Träumen, verkleidet in Bildern und Symbolen, wieder an der Oberfläche erscheinen;
dass eine Grenzziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem fast unmöglich ist.
Die Vorstellung der Individualpsychologie Adlers ist eine andere. Er grenzt das Unbewusste nicht scharf gegen das Bewusste ab. Aufbauend auf Adler lässt sich über das Unbewusste Folgendes sagen:
Der Mensch ist eine unteilbare Einheit. Seelisches und Körperliches, Unbewusstes und Bewusstes gehen nahtlos ineinander über. Die Aufspaltung wird dem Menschen nicht gerecht. Auch die Bibel lässt diese künstliche Aufteilung nicht zu.
Das Unbewusste ist kein Ort, kein unheimlicher Dschungel, kein gefüllter Raum mit verdrängten und abgestellten Gedanken und Wünschen.
Der Mensch denkt, fühlt und handelt im Sinne seines Lebensstils. Das heißt, er lässt Dinge, die ihm angenehm erscheinen, vor dem Bewusstsein zu, andere Dinge, die ihm unlieb sind, denen er ausweicht, lässt er im so genannten Unbewussten verschwinden.
Wir haben uns so an die Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem gewöhnt, dass wir in der Tat an zwei verschiedene Bereiche glauben. Im Prinzip gibt es sie nicht. Nach Freud ist das Unbewusste das Verdrängte. Da für Adler im Gegensatz zu Freud das Ich keine Instanz neben Es und Über-Ich ist, sondern gleichbedeutend mit der Person, lehnt er den Gegensatz zwischen bewusst und unbewusst ab. Das Unbewusste meint nach unserer Sicht nicht versteckte Winkel unserer Seele, sondern Teile des Bewusstseins, die wir nicht verstanden haben.
Das Unbewusste ist also das Nicht-Zugelassene, das Vergessene, das Ausgeblendete, das dem Lebensstil nicht entspricht. Das Unbewusste ist die unverstandene Seite unseres Lebensstils; die unverstandenen Lebens-Grundüberzeugungen, Selbstannahme, Beziehungs- und Umgangsmuster verkörpern den Lebensstil. Dieser Lebensstil bleibt den meisten Menschen unbewusst bzw. unverständlich.
Der Lebensstil als unbewusster Lebensplan verfolgt Zwecke und Ziele, die dem Bewusstsein weitgehend unbekannt sind. Der Mensch verhält sich so, als ob er über seine Ziele bestens informiert ist.
»Der Mensch weiß mehr, als er versteht!« (Dies war ein Lieblingssatz Adlers.) Der Mensch weiß unermesslich viel über sich zu berichten, auch im Traum. Aber er versteht es nicht. Seine verborgenen Absichten sind ihm unbewusst. Er kann dieses Wissen verstehbar machen. Mithilfe eines Seelsorgers oder Beraters kann er diese verborgenen Schätze ins Licht des Bewusstseins heben.
Das Unbewusste ist also das Unerkannte, Unverstandene, Unverdaute und Ungeklärte. Das Unbewusste ist nicht die schweinische Rumpelkammer unserer Persönlichkeit, wo beschämende Wünsche und unsaubere Begierden verstaut werden.
Traumassoziationen
Die meisten Berater, Therapeuten und Seelsorger,