Wie auch immer, Josephine hat es auf die Bühne des Theaters geschafft, in dem sie bis dahin an ihren freien Tagen im Publikum stand. Mit Begeisterung performt sie alle Schritte, Gesten und Grimassen, die sie sich in den Jahren zuvor als Zuschauerin hier abgeschaut und angeeignet hat. Ihre erste Rolle ist der Cupido in einem Melodrama mit dem Titel Twenty Minutes in Hell. In der Szene im Himmel ist vorgesehen, dass Josephine an einem Seil vom Schnürboden herabgelassen wird und anmutig durch die Kulisse „fliegt“. Doch die Flügel ihres Kostüms verheddern sich mit dem Seil und ihr Auftritt ist ein einziges hilfloses Gezappel. Die Menge ist begeistert von der unbeabsichtigten Komik, und der Produzent der Dixie Steppers, Bob Russell, erkennt ihr Potenzial. Er nimmt die Jones Family als festen Bestandteil in die Show der Dixie Steppers auf, und Josephine amüsiert von da an jeden Abend das Publikum als Liebesgott – für einen Wochenlohn von bis dahin unvorstellbaren neun Dollar.
Auf Tour
„Ich bin davongekommen. Mit geschlossenen Augen träumte ich von Städten im Sonnenlicht, von wunder vollen Theatern, von mir im Scheinwerferlicht.“
Als das Gastspiel in St. Louis endet, reisen die Dixie Steppers weiter zur nächsten Station ihrer Tournee. Niemand hält Josephine zurück, niemand kommt zum Bahnhof, um sie zu verabschieden, tatsächlich weiß auch niemand, dass sie St. Louis als Mitglied der Jones Family verlässt. Nur Margaret ist eingeweiht, doch sie behält die Pläne ihrer großen Schwester so lange für sich, bis der Zug mit Josephine schon lange abgefahren ist. Carries Kommentar verbirgt nicht die Erleichterung, eine Verantwortung los zu sein: „Sie hat ihren Weg gewählt. Lassen wir sie.“23
Die Tour geht in den Süden bis New Orleans und von dort nach Norden bis Philadelphia – von einem Theater zum nächsten, meist über Nacht im Zug, um Kosten zu sparen oder weil es vor allem im Süden für Schwarze in manchen Städten fast unmöglich ist, ein Zimmer zu bekommen. Die Schilder an Restaurants, Toiletten und Kinos sprechen die eindeutige Sprache der Rassentrennung – „whites only“ –, und da sich überhaupt nur sehr wenige Schwarze ein Hotelzimmer leisten können, ist das Angebot an Hotels entsprechend dünn. In Memphis etwa leben 40 Prozent Schwarze und es gibt vier Vaudevilletheater, aber die Dixie Steppers, die hier für sieben Wochen gastieren, müssen in eine Privatpension für Schwarze ausweichen.
Doch auch wenn das Reisen anstrengend ist, die Zimmer schmutzig und die Theater schäbig – Josephine darf tanzen, verdient Geld und bekommt Applaus, vor allem aber ist sie Teil einer Theatertruppe: „Ich gehöre zur Familie. Alle schwatzen jetzt, lachen, erzählen Geschichten, die samt und sonders auf der Bühne oder hinter den Kulissen spielen und deren Pointen ich nicht immer mitbekomme. Aber eines bekomme ich mit: die jungen Männer und Mädchen sprechen eine freie, höchst witzige Sprache; alle rauchen blonde Zigaretten und schlagen die Beine weit übereinander, ohne Rücksicht darauf, was dabei alles zu sehen sein mag.“24 Für Josephine ist der Auf- und Ausbruch aus dem bisherigen Leben vor allem ein Abenteuer, dessen tatsächliches Risiko sie noch nicht einschätzen kann, denn neben Rassentrennung, Ku-Klux-Klan und den grundsätzlichen Unstetigkeiten und Gefahren eines reisenden Künstlerlebens gilt ein „Showgirl“ als „leichtes Mädchen“. Wie viel Josephine davon mitbekommt, ob die Gruppe sie schützt, darüber lässt sich nur spekulieren. Sie selbst berichtet jedenfalls nicht über die Schwierigkeiten der Anfänge, darüber, ob sie einsam ist oder Angst hat. Wenn sie dazu befragt wird, dann resümiert sie: „Ah, wie lustig ist doch das Künstlerleben.“25
Die Tour der Dixie Steppers wird von der TOBA (Theater Owner’s Booking Association) organisiert, eine der großen Agenturen, die das Vaudevilletheater professionalisieren und durch die um 1920 weibliche schwarze Sängerinnen wie Bessie Smith („Kaiserin des Blues“), Ethel Waters (erste afroamerikanische Sängerin mit eigener TV-Show) und die Blues-Sängerin Clara Smith (die „Königin der Wehklage“) reüssieren. Als Josephine Baker bei den Dixie Steppers aufgenommen wird, ist Clara Smith der unangefochtene Star der Truppe. In einem seiner legendären Musik-Essays beschreibt sie der Fotograf und Autor Carl van Vechten: „Ihre Stimme, die beim Schluchzen der Viertelnoten fast zu ersticken droht, ist herzerweichend. Ihre expressiven und zugleich zurückhaltenden Gesten sind unvergleichlich. Was für eine Künstlerin!“26
Clara Smith sieht etwas in Josephine und nimmt sich des jungen Mädchens an. Clara ist ein Star mit den entsprechenden Allüren. Ein Star muss kompliziert und anspruchsvoll sein, sonst wird er nicht ernsgenommen, ist eine ihrer Lektionen. Aufwändige Kostüme, hohe Schuhe, Seidenstrümpfe, Schmuck und Make-up sind eine unerlässliche Ausstattung, durch die man das männliche Publikum verführt. „Sie trug sehr kurze, enganliegende, durchsichtige Kleidchen über einem zarten rosa Höschen, hauchdünne Strümpfe und Schuhe mit Absätzen.“27 Und eine Sängerin muss penibel darauf achten, den besten Pianisten als Begleiter zu haben, dadurch wertet man sich auf.
In jungen Jahren haben diese Grundsätze Josephine beeindruckt, als sie selbst ein Star ist, greift sie wie selbstverständlich auf einige von Claras Tipps zurück – und erweitert ihr Repertoire um ausgefallene Details. Doch Josephine lernt in diesen frühen Tagen auch, dass ein Star sich durch sein Verhältnis zum Publikum auszeichnet, dass ein Star die Aufmerksamkeit des Publikums so sehr liebt, dass die Bühne Suchtcharakter hat. Wem das nicht gegeben ist, den erreicht die Magie der Show nicht, der entwickelt keine Magie, um das Publikum zu verzaubern. Für die Revuetänzerinnen, entdeckt sie, schien „der Applaus, die Gier des männlichen Publikums, die Pfiffe, das Lachen, das Weinen, (…) nie hinter die Bühnenbeleuchtung zu ihnen durchzudringen. Sie tanzten nur, um nicht hungern zu müssen.“28 Für sie selbst ist jeder Auftritt ein Rausch. „Die Blicke des Publikums, das mich anschaute, elektrisierten mich.“29
Nach sieben Wochen in Memphis ziehen die Dixie Steppers weiter nach New Orleans. Im New Orleans Item werden sie wie folgt angekündigt: „Ab nächsten Montag: BOB RUSSELL und seine 25 schärfsten Dixie-Nigger“.30 Dass „Nigger“ eine abfällige, diskriminierende Bezeichnung für Schwarze ist, darüber regt sich zu dieser Zeit niemand auf. Die Probleme der Rassendiskriminierung sind in so vielen Bereichen vorhanden, dass Sprache noch zu den „Luxusproblemen“ gezählt wird, mit denen keine Zeit zu verschwenden ist.
Josephine ist von New Orleans begeistert, hier steht sie zum ersten Mal in einem gut ausgestatteten Theater auf der Bühne. Bei Zwischenstationen in kleinen Theatern auf dem Weg dorthin werden ihre Auftritte als Cupido häufig gestrichen, weil die Theater zu klein und so schäbig sind, dass kein Deckenboden vorhanden ist, um ein Seil festzubinden. In New Orleans spielen die Dixie Steppers im The Lyric, einem großen, gut ausgestatteten Haus mit einem Marmorfoyer, einer fast zwölf Meter tiefen hydraulischen Hebebühne und einem großen Orchester. Doch Josephines anfängliche Begeisterung schwindet, als sie erfährt, dass die Balkonszene mit ihr als Liebesgott endgültig aus dem Programm gestrichen ist. Sie ist in der Zwischenzeit gewachsen, sozusagen aus ihrer Rolle herausgewachsen, und Bob Russell, der Manager, hat auch keinen Ersatz vorgesehen. Da die Jones Family nach Ende des Engagements in New Orleans bleiben wird, schlägt er ihr vor, doch bei ihrer ursprünglichen Truppe zu bleiben – doch da hat er nicht mit Josephines Eigensinn gerechnet: Nachdem weder Bitten noch Tränen ihn erweichen, schlüpft sie in einem unbeobachteten Moment in eine der Transportkisten der Dixie Steppers, deren Deckel noch nicht vernagelt ist. Per „Cargo“ verlässt sie New Orleans in Richtung Philadelphia. Als sie beim nächsten Halt entdeckt wird, ist Bob Russell außer sich vor Wut, doch Josephine alleine nach New Orleans zurückzuschicken, kommt auch nicht in Frage. Was tun?31
Darüber wie es weitergeht, gibt es die eine Version, dass Josephine sich hinter der Bühne in Arbeit stürzt und nützlich macht, wo sie kann: „Ich nähte, bürstete Kostüme, polierte Schuhe, bügelte, kämmte Haare, hängte Kleider auf, hängte Kleider ab, schnürte, knöpfte … hing auf, legte aus, packte ein, packte aus.“32 In einer anderen Version verletzt sich eine Tänzerin und Josephine darf als Showgirl am Ende der sogenannten Chorus Line, in der die oft sehr jungen Frauen synchron eine einfache Choreografie darbieten, einspringen. Sie trägt ein viel zu großes Paillettenkleid und obwohl sie die Schritte genau kennt, geht ihre Tanzlust mit ihr durch.