Vor allem die staatlichen Zuwendungen finden in Lebensbeschreibungen Josephine Bakers immer wieder Erwähnung, weil sie die einzige finanzielle Sicherheit in den prekären Verhältnissen darstellten. Dabei wird aber ein ganz wesentlicher Faktor ausgelassen, der als familiäres Erfolgsstreben gelesen werden kann: Der Streit um die Frage danach, ob Sklavenhaltung legitim ist, spaltet die USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Staaten mit Sklaverei und ohne. Der Konflikt gipfelt im Sezessionskrieg (1861–1865), von dem jedoch afroamerikanische Soldaten lange ausgeschlossen bleiben. Erst gegen Ende werden in der Unionsarmee der Nordstaaten schwarze Einheiten aufgestellt.
Die Rekrutierung schwarzer Soldaten ist im 19. Jahrhundert eine Kardinalsfrage in den USA, die eng mit der Frage nach der amerikanischen Identität verknüpft ist: ein schwarzer Soldat ist zweifellos ein Staatsbürger und kein Sklave. Schwarze Soldaten sind ein Novum, das gegen Ende des Bürgerkriegs die unterliegenden Konföderierten Staaten in ein Dilemma bringt, denn auf Seiten der Union haben sich die „farbigen Truppen“ als höchst effektiv erwiesen. Doch Schwarze zu Soldaten zu machen, würde das Ende der Revolution bedeuten, argumentiert Howell Cobb, Generalmajor der konföderierten Armee, gegen eine Stärkung der geschwächten Truppen durch Afroamerikaner. Er erkennt die weitreichende Problematik einer solchen Entscheidung und formuliert: „Wenn sich Sklaven als gute Soldaten erweisen, dann ist unsere ganze Theorie der Sklaverei falsch.“4
Fotoaufnahme eines schwarzen Mädchens um 1907, die allgemein Josephine Baker zugeschrieben wird.
Die Ironie dieser treffsicheren Definition betont gleichzeitig den Anspruch der Konföderierten Staaten auf weiße Vorherrschaft und einen Rassismus, der sich durch kein Argument sinnvoll rechtfertigen lässt, weil der Gegenbeweis schon lange erbracht ist und sich nicht leugnen lässt. Der Ausgang des Bürgerkriegs hat zwar nur die Sklaverei abgeschafft und den Rassismus, aber Charles Crook und auch der tote Mann Elvaras waren beide „gute Soldaten“, der Staat zahlt für ihre Kriegsverdienste als Staatsbürger, sie haben die „Theorie der Sklaverei“ widerlegt. Daraus resultieren Stolz und die Erfahrung, erfolgreich sein zu können, wenn man seine Chancen nutzt. Die Chance heißt St. Louis World’s Fair.
In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft kommen die beiden Ehepaare, Elvara und die etwa elfjährige Carrie kurz vor der Jahrhundertwende von South Carolina nach St. Louis.5 Seit 1900 gilt die Stadt als ein besonders für Arbeiter attraktives Ziel: Hier floriert der Handel, denn mit dem Bau des Zentralbahnhofs verfügt St. Louis über den damals größten Umschlagbahnhof und ist mit Anbindung von 42 Bahnstrecken einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der USA. Außerdem sind die Vorbereitungen zur geplanten Weltausstellung 19046 in vollem Gang und das Viertel Greater St. Louis entwickelt sich rapide.
Gemeinsam bezieht die Familie McDonald/Crook eine Wohnung in einem Reihenhaus in der Gratiot Street 1534 und Carrie besucht die Schule. Lesen und Schreiben gelten als der Schlüssel zum Erfolg, vor allem im polyglotten, ehemals französischen St. Louis, wo sich nach der Abschaffung der Sklaverei eine gebildete afroamerikanische Mittelschicht ausgebildet hat. Für die McDonalds/Crooks hätte ein sozialer Aufstieg schon bedeutet, dass Carrie „wenigstens eine livrierte Aufzugspagin in einem Kaufhaus für die Oberschicht in St. Louis geworden“7 wäre, doch auch sie arbeitet als Wäscherin und Kellnerin und entwickelt ihre eigenen Ambitionen, weitab von der Schulbank. Sie ist eine lebenslustige, attraktive junge Frau, die sich an Sonntagen auf Tanzveranstaltungen vergnügt und als eine der beste Amateurtänzerinnen in St. Louis gilt.
Ihr gefällt die Aufmerksamkeit eines Publikums und so startet sie den Versuch, neben der Arbeit in einer Wäscherei, beruflich als Tänzerin und Darstellerin Fuß zu fassen. Als sie 1905 beim Gaiety Theatre vorspricht, das in einer neuen Produktion A Trip To Africa schwarze Amateure besetzt, lernt sie Eddie Carson kennen. Eddie, der sein Geld vor allem als Schlagzeuger in verschiedenen Bands verdient, ist gutaussehend, charmant und ehrgeizig. Gemeinsam arbeiten die beiden eine Nummer mit Gesang und Tanz aus, mit der sie durch die Bars von St. Louis ziehen. Ein Jahr nach ihrem Kennenlernen kommt 1906 Josephine zur Welt, ein so gesundes, pummeliges Baby, dass sie den Spitznamen „Thumpie“ erhält.8
Carrie ist bei Josephines Geburt 21 Jahre alt und nicht mit Eddie verheiratet. Ob er der leibliche Vater von Josephine ist, hat sie nie ausdrücklich bestätigt, wenngleich so manches dafürspricht: Zunächst hat er unter den vielen legendenhaften Vaterfiguren einen Namen und nachweislich einen Bezug zu Carrie. Die übrigen Versionen typisiert Josephine als „ein weißer Junge, der mit Mama zur Schule ging“, „ein spanischer Tänzer“, „ein jüdischer Schneider“ oder „ein Kreole aus New Orleans“. Eddie Carson dürfte unter den Varianten der „spanischer Tänzer“ sein, denn er hat spanische Vorfahren und olivfarbene Haut, was auch Josephines hell(er)en Teint erklären würde. Und Eddie hält Kontakt, auch gegen den Willen Carries, die ihm keinen Umgang gewährt.
Als Josephine bereits 13 Jahre alt ist und einen Job als Kellnerin im Jazzclub Old Chauffeur’s Club annimmt, kommt Eddie regelmäßig vorbei, um Josephine zu sehen – er spielt in der Band des benachbarten Phytian Society Clubs. Dass er mittlerweile verheiratet und Adoptivvater der drei Kinder seiner Frau ist, schürt Josephines Eifersucht. Sie hält ihn für wohlhabend und empfindet es als ungerecht, dass er eine andere Familie ernährt, darum bittet sie ihn regelmäßig um Geld. Viele Jahre später erinnert sich eines der drei Stiefkinder daran, wie sehr Eddie darüber frustriert war, dass die Forderungen immer größer wurden, und wie Josephine schließlich den Bogen überspannte, als sie ihn um eine Uhr bat. So wohlhabend und großzügig gegenüber seiner neuen Familie, wie sie angenommen hat, war Eddie nicht, „doch wie so oft im Leben – Josephine hatte ihre eigene Meinung gefasst und ließ sich durch nichts davon abbringen“.9
Josephine muss in ihrer Kindheit einige Lektionen lernen und ihren Weg finden, mit Armut, Diskriminierung und einer Familie zurechtzukommen, die weder emotionale noch soziale Stabilität bietet. Gleich nach der Geburt kommt sie in die Obhut ihrer Großmutter Elvira, deren Halbschwester Elvara und ihrer Großtante Caroline. Josephines Mutter Carrie, die in ihrem Elternhaus nicht mehr geduldet wird, schlüpft bei ihrer Arbeitgeberin Josephine Cooper unter, eine warmherzige, loyale Person, die sich an das Credo hält: „Wir Farbigen wurden oft auseinandergerissen und umhergeschubst, aber dann hat das Leben uns als Familie zusammengebracht.“10
Im Hause McDonald/Crook herrscht ein anderer Ton. Wann immer Carrie ihre Tochter besucht, kommt es zu Streit: Elvira versucht zwar immer wieder ihre Tochter zu verteidigen, doch Caroline beschimpft Carrie als „faule Dämonin, die kein Recht hat, ihre Wohnung zu betreten, (…) die sich mit einem Weißen eingelassen und damit die größtmögliche Schande über die Familie gebracht hat“, zumindest hat sich das so in Josephines Erinnerung eingegraben.11 Entsprechend selten bekommt Josephine ihre Mutter zu Gesicht. Die ersten fünf Jahre ihrer Kindheit verbringt sie bei ihrer Verwandtschaft, mit ihrer Großmutter und Elvara als Bezugspersonen und Ersatzmütter, Caroline ist die strenge Tante. Carrie wohnt bei Josephine Cooper, arbeitet wieder in deren Wäscherei und kehrt an Eddies Seite auf die Bühnen der Nachtbars zurück – doch nicht lange, dann zerplatzt ihr Traum von einer Karriere im Rampenlicht endgültig: Sie ist wieder schwanger. Mit der Geburt von Richard Alexander (*12.10.1907), genannt „Brothercat“, zerbricht die private und berufliche Beziehung zwischen Eddie und Carrie. Mit zwei Kindern ohne Väter, geschweige denn einem Ehemann, bleiben Carrie nicht viele Optionen. Sie wählt die Ehe mit einem gutmütigen Verehrer: Im Sommer 1908