Zu jeder Mitarbeiterin gehörte ein Metallschrank, in dem sie bei Arbeitsantritt ihre private Garderobe verstaute.
Die körperliche Arbeit steigerte den Appetit.
Wir gingen zum Essen in der knapp bemessenen Mittagspause gerne in einen Imbiss im Nachbarhaus.
Das bedeutete: Kittel ausziehen, Kleid oder Hose und Pullover anziehen, Mantel drüber, Treppen hinauflaufen, rüber in den Imbiss, anstellen, essen und retour.
Der Imbiss mit etwa fünfzig Bistrotischen und Bänken, mit einem langen Biertresen, einer großen Auswahl an Schnellgerichten und entsprechend langen Warteschlangen, wurde gut besucht.
Die Mittagssirene heulte. Ich stand auf der obersten Leitersprosse. Meine Kolleginnen stürmten zu ihren Schränken. Ich rief ihnen die Bitte hinterher, im Imbiss einen Platz für mich zu besetzen und als Gericht den heutigen Mittagstisch zu wählen.
Immer zwei Sprossen mit einem Mal nehmend, eilte ich die Stufen hinab, lief zu meinem Schrank. Im Laufen öffnete ich die Knöpfe, und zerrte an dem grauen Postkittel.
Auf dem Gehweg schlug ich den Mantelkragen hoch, es war bitterkalt. Durch die fahrenden Autos spritze Schneematsch von der Straße.
Als ich den Imbiss betrat, sah ich meine Kolleginnen bereits gemütlich in einer Bankreihe sitzen, mir einen Platz freihaltend.
In dem überfüllten Raum befanden sich vorwiegend Männer der nahegelegenen Maschinenfabrik.
Mancher Flirt wurde hier ausgetragen, aber ich war viel zu schüchtern und unerfahren für diese Art der Pausenbeschäftigung.
Ich eilte zu einem Garderobenständer, der gut im Blickfeld vieler Gäste lag, zog meinen Mantel aus, hängte ihn auf und ging auf unseren Tisch zu.
An den Tischen verstummten die Gespräche. Meine Kolleginnen starrten mich entgeistert an. Erschrockene, teils auch belustigte Blicke fing ich auf.
Ich schaute an mir herunter.
Bestimmt dauerte es nur Sekunden. Für mich war es diese Ewigkeit, in der man sich wünscht, der Fußoden möge sich öffnen und einen verschlingen.
Ich stand im Hemdröckchen im Lokal, im artigen, spitzenbesetzten, kurzen, weißen Unterrock mit Spaghettiträgern, also unverkennbar in Unterwäsche.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich zielstrebig, aber mit wackeligen Beinen, die wenigen Schritte bis zu unserem Tisch geschafft habe. Der Weg zurück zur Garderobe wäre der längere gewesen. Ich flehte meine Kolleginnen an, mir meinen Mantel zu holen, da ich mich, nun schockgelähmt nicht mehr von meinem Platz rühren konnte und wollte. Im Hals spürte ich meinen Herzschlag. Mein Gesicht und mein Dekolleté konkurrierten farblich mit der aufgetragenen Tomatensuppe.
Inzwischen schienen sämtliche Imbissbesucher auf mich aufmerksam geworden zu sein. Ich bedachte meine Kolleginnen mit hilflosen, flehenden Blicken.
Ich weiß nicht mehr, wer sich endlich erbarmte, mir meinen Mantel zu holen, um die für mich entsetzlich peinliche Situation zu beenden.
Zitternd und vor Scham rot eingefärbt, verließ ich fluchtartig das Lokal.
Vor der Tür legte sich um meine Schultern ein schwerer, fremder Wintermantel. Arme umfassten mich.
Ich begann, hemmungslos zu weinen.
Der Ärmelstoff eines karierten Herrenmantels war nass, bevor ich es wagte, meinen Blick zu heben. Ich schaute in die gütigsten, blaugrauen Augen der Welt.
Im nächsten Monat sind wir 38 Jahre verheiratet.
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