Noch war er für mich Herr Mertens. Aber in meinen Gedanken nannte ich ihn schon Florian oder Flori. Das durfte natürlich niemand wissen.
Florian Mertens war der Prokurist der Firma, in der ich ein Praktikum absolvierte.
Natürlich hatte ich schon herausbekommen, dass er geschieden und doppelt so alt war wie ich. Das störte mich nicht, er sah umwerfend aus. Brad Pitt war eine graue Maus gegen ihn.
Auf dem Betriebsfest hatte er sich mit mir unterhalten, das heißt, ich hatte versucht, geistreich auf seine Fragen zu antworten. Egal, er hatte mich für den kommenden Freitag eingeladen und wollte mich um 19.30 Uhr von zu Hause abholen.
Mir schwebte vor, das hautenge Minikleid mit den Spaghettiträgern anzuziehen. Ich hatte es im vorigen Jahr für Claudias Hochzeit gekauft. Warm genug war es jetzt im Juli, ich würde ohne Jacke auskommen, besaß auch keine passende. Mein letztes Geld war gestern draufgegangen für ein paar sündhaft teure, schwindelerregend hohe Stilettos, sogenannte High Heels. Darauf gehen konnte ich noch nicht. Ich übte es gerade, als mein sechzehnjähriger Bruder Ben den Kopf durch die Zimmertür steckte.
»Wow, ich wollte dir Pfefferspray für dein Rendezvous empfehlen. Man weiß ja nie. Aber gegen die Waffen«, er zeigte auf meine Schuhe, »ist Pfefferspray nur ein Papierkügelchen, wenn es um Selbstverteidigung geht.« Er grinste frech, dann zog er den Kopf zurück. Glaubte er wirklich, ich würde mit diesen Kostbarkeiten nach ihm werfen, wie ich es manchmal mit den Hausschlappen tat?
Meine Gehübungen auf den stelzenartigen Gebilden erinnerten an einen Zirkusclown. Im Fernsehen auf dem Catwalk sah es irgendwie anders aus. »Hoffentlich schlägt er nach dem Essen keinen Verdauungsspaziergang vor«, sinnierte ich, bevor ich in das Kleid schlüpfte, das heißt, zu schlüpfen versuchte.
Oh jeh! Wie war das eingelaufen in der Reinigung! Dass es aus synthetischem Gewebe war und somit nicht einlaufen konnte, verbannte ich aus meinem Denkvermögen. Vielleicht hatten auch die Tierchen, die man Kalorien nennt, sich mit dem Kleid beschäftigt.
»Ben!«, rief ich, und noch einmal wie ein Mensch in Todesnot: »Ben!«
Die Ohren mit dem MP3-Player verstöpselt, trabte er endlich gelangweilt ins Zimmer. Er schaute mich fragend und amüsiert an, wie ich da halbwegs in dem Kleid feststeckte.
»Ben, du musst mir helfen, ich bekomme den Reißverschluss im Rücken nicht zu.«
Für sein Grinsen hätte ich ihn erschlagen mögen. Ich verkniff mir jede Bemerkung, da nur er momentan im Hause und ich auf ihn angewiesen war.
»Das schaffe ich auch nicht«, hörte ich ihn murmeln und wesentlich deutlicher: »Alle zehn Zentimeter kosten dich fünf Euro.« Als er den Reißverschluss endlich geschlossen hatte, war ich um zwanzig Euro ärmer.
»Denkst du, ich bin die Europäische Zentralbank?«, zischte ich wütend.
Ben zuckte kurz mit den Schultern und summte zu der Musik aus seinen Kopfhörern, als er den Raum verließ. Ich hatte mich schon häufig gefragt, ob er überhaupt noch hören konnte ohne die Dinger.
Nase pudern, Lippenstift. Schon wieder Schweißperlen auf der Oberlippe, dick wie Regentropfen.
Das pünktliche Klingeln des Herrn Mertens hatte mein Bruder erstaunlicherweise wahrgenommen. Er lief vor mir zur Haustür und öffnete neugierig. Bestimmt hatte er gelauert, um nichts zu verpassen.
Mein viel zu enges Kleid und die unglaublich hohen Schuhe erlaubten mir nur einen würdevollen, gemächlichen Gang über den Flur. Jedenfalls hoffte ich, dass Herr Mertens dort im Türrahmen meine schwankenden Minischritte so deutete.
Diese trippelnde Art zu gehen musste ihn an eine japanische Geisha erinnern.
Gott sei gedankt, sein Auto stand gleich vor der Tür! Die zwanzig Meter dorthin auf diesen Ungeheuern, die sich tatsächlich Schuhe nannten, kamen mir vor wie der Pilgerpfad nach Santiago de Compostela. Natürlich hätten die Folterinstrumente an meinen Füßen wenigstens eine Nummer größer sein sollen. Doch welcher Mann findet solche Schuhe in 40 oder 41 noch sexy? Zehen zusammenrollen und durch.
Sein Auto, ein, niedriger Sportwagen, stand platt auf der Straße wie eine Flunder vor der Zubereitung auf der Küchenanrichte.
Herr Mertens hielt mir galant die Beifahrertür auf. Ich starrte entsetzt auf das flache Etwas, das ein Auto war.
Wie um alles in der Welt sollte ich in meinem Outfit charmant diese Niederungen erreichen? Zu Hause hatte ich Auto ein- und aussteigen geübt, abgeschaut im Fernsehen bei der Queen von England. Zuerst den Po auf den Sitz, die Beine nachziehen. Das ging in dem Kleid nicht. Die Queen stieg bestimmt niemals in ein oder aus einem Auto, dessen Bodenblech die Straße berührte.
Ungraziös, mit den Füßen zuerst, als würde ich eine schwankende Segeljacht betreten, stieg ich in das Cabriolet. Immerhin, es war mir gelungen, ohne vorher Kleid und Schuhe auszuziehen.
Die Fahrt zum Restaurant verlief aufregend. Herr Mertens machte mir Komplimente über mein Aussehen, dann plauderte er über dieses und jenes. Doch keine seiner Themen ließ die Möglichkeit zu, mit den ebenfalls zu Hause einstudierten, geistreichen Argumenten zu antworten. Meine Fähigkeit zu sprechen, hatte ich kurzfristig verloren. Wie konnte es auch anders sein mit meinem Traumprinzen in einem Sportwagen in einer warmen Sommernacht. Dazu ich in einem mehr atemraubendem als atemberaubendem Kleid und Schuhen, die sich unaufhaltsam mit meinen gequälten Füßen zu einer Materie vereinten.
Nach ein paar Minuten endete die Fahrt vor dem Restaurant. Herr Mertens eilte um die Flunder, um mir die Beifahrertür aufzuhalten. Das Aussteigen erwies sich als nahezu unmöglich, noch viel schwieriger als das Einsteigen. Es gelang mir nur, indem Herr Mertens meine Hände erfasste und mich mit sichtlicher Anstrengung aus dem Wagen zog wie einen gefüllten Kartoffelsack.
Er ging die wenigen Meter zum Restaurant voraus, um dort die Eingangstür aufzuhalten. Herr Mertens hatte die Strecke problemlos in fünf Sekunden bewältigt.
Ich dachte mir: »Er wird die Tür eine ganze Weile aufhalten müssen, bis ich ankomme.« Das Ziel fast erreicht, hatte ich doch tatsächlich den Fußabtreter auf, nein mit dem falschen Fuß erwischt. Ein blöder Abstreifer aus Metall mit vielen kleinen, offenen Quadraten. Eines dieser Quadrate hielt den Absatz meines rechten Schuhs umklammert. Ich drohte zu fallen. Gerade konnte ich noch mein Gleichgewicht wieder herstellen und ein Stück zurückschnellen wie an einem imaginären Gummiband, sonst hätte ich den ahnungslosen Herrn Mertens umgestoßen.
Er ließ die Restauranttür ins Schloss fallen, um mir behilflich zu sein. Der Absatz steckte fest im Rost. Mein Fuß steckte unlösbar im Schuh. Zu kleine Schuhe haben den Vorteil, dass in solchen Situationen der Fuß im Schuh verbleibt.
Herr Mertens konnte den Absatz befreien. Der hatte leider drastisch seine Winkelposition zur vorderen Schuhsohle verändert. Er baumelte verloren hin und her.
Es hatte Herrn Mertens zunächst die Sprache verschlagen und ich zischte mit verkniffenem Lächeln: »Nicht schlimm, macht nichts«, und dachte: »150 Euro sind dahin. Bei meinem Praktikantengehalt bedeutet das, einen Monat nichts zu essen kaufen zu können und unter einer Brücke zu schlafen.«
Wie gut, dass ich noch bei den Eltern wohnte.
Ich spürte, wie mir Tränen der Wut in die Augen traten. Verstohlen wischte ich sie mit dem Handrücken fort, was dem Augen-Make-up nicht so gut bekam.
An Herrn Mertens Seite schlurfte ich ins Restaurant. Der Schuh mit dem lädierten Absatz musste ja möglichst Bodenhaftung behalten, damit ich nicht stolperte.
Erstaunte Blicke trafen uns. Da kam eine stark gehbehinderte Frau. Sie trug ein atemberaubendes, hautenges Minikleid und High Heels, mit denen Frau bei nahezu jedem Mann auf Augenhöhe kam, und verschmiertes Augen-Make-up.
Der reservierte Platz bot einen fantastischen Blick auf den Sonnenuntergang am tiefblauen Horizont, wo die Wellen des Sees den Himmel küssten.
Ich