»Vorweg kann ich Ihnen die Tomatensuppe empfehlen, die ist köstlich«, platzte Herr Mertens in meine Gedanken. Dazu hatte ihn offensichtlich meine Gesichtsfarbe inspiriert. »Zum Hauptgericht könnte er Hummer mit roten Rübchen bestellen und zum Nachtisch rote Grütze«, dachte ich verärgert.
Die Suppe und die folgenden Speisen waren vorzüglich, Herr Mertens noch viel verführerischer, als in meinen Träumen. Für etwa zwei Stunden war jedes Malheur vergessen.
Als ich mich nach dem Essen behaglich zurücklehnte, vernahm ich ein unmissverständliches Geräusch. Der rückwärtige Reißverschluss meines Kleides hatte den Härtetest durch den letzten Löffel Tiramisu nicht bestanden.
Herr Mertens hatte das Geräusch ebenfalls wahrgenommen und fälschlicherweise als einen Rülpser interpretiert. Er schaute mich irritiert, und wie mir schien, zum ersten Mal verlegen an. Ich hatte keine Lust auf Erklärungen, bat ihn um sein Sakko, bevor mir zusätzlich die Spaghettiträger herabrutschten.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte er, bevor er sich erhob, um mir seine Jacke, um die Schultern zu legen.
Er sah den entblößten Rücken. Als er wieder auf seinem Platz saß, zuckten seine Mundwinkel verdächtig. Er konnte sein Lachen nicht mehr zurückhalten.
Und das war ansteckend. Wir lachten beide, bis uns die Tränen kamen und uns vorwurfsvolle Blicke trafen.
Ich hatte die Schuhe unter dem Tisch nicht unbemerkt ausziehen können.
Wie es aussah, als wir das Lokal verließen, will ich versuchen zu beschreiben:
Also: ich schlurfend vorweg wegen der erforderlichen Bodenhaftung für den abgebrochenen Absatz. Über dem ramponierten Kleid das viel zu große Sakko, welches aber keineswegs den gesamten rückwärtigen Schaden bedeckte. Herr Mertens ganz nah, nur eine Handbreit hinter mir, um meine Blöße vor den Gästen, zu verbergen. Das zwang uns zu einem merkwürdigen Gleichschritt. Links, rechts, links, rechts, wobei die schlurfende rechte Seite immer etwas mehr Zeit in Anspruch nahm.
Vor dem Restaurant nahm er mich auf seine Arme. Er trug mich zum Auto, half mir beim Einsteigen. Ihm gelang es, die Schuhe von meinen gemarterten Füßen zu ziehen, und er flüsterte mir zärtlich ins Ohr: »Zum Teufel mit der Schönheit!«
DAS GEBURTSTAGSGESCHENK
Die Großeltern liebten Kai, ihr ältestes Enkelkind, ganz besonders.
Seit seiner Geburt verkörperte er für sie Gegenwart und Zukunft, gab ihrem Leben Inhalt, Freude und Sinn. Er wurde von ihnen verwöhnt und verzogen.
Kai war mein siebenjähriger Neffe, Kind meines Schwagers Fred und seiner Frau Simone. Die beiden hatten drei weitere Kinder, für die wenig Platz in den Herzen der Eltern und besonders der Großeltern war. Ihre Liebe konzentrierte sich auf Kai, den ältesten Sohn des Bruders meines Mannes.
Wir wohnten in der Villa meiner Schwiegereltern, Fred und Simone mit den Kindern, mein Mann Gerd, seine Eltern und ich.
Es war ein attraktives Haus im Jugendstil mit zwölf Räumen und einem großzügigen Anbau.
Meine Schwiegermutter war eine herrische Person, eine kühle, blonde Schönheit mit leuchtend blauen, herausfordernd schauenden Augen.
Mich lehnte sie ab. Nach ihrer Auffassung hatte ich die Beziehung ihres Sohnes zu einer Millionärstochter platzen lassen. Sie war im Recht, aber ich wusste nichts von der Verbindung, als ich meinen Mann kennenlernte. Gerd hatte mir nie davon erzählt.
Nach Jahren erfuhr ich davon auf einer Geburtstagsparty, auf der diese Frau anwesend war. Sie kam mit ausgestreckten Armen lächelnd auf mich zu, um mir zu sagen, dass sie mir verziehen hätte. Aufgrund meines verständnislosen Blickes lachte sie nur heftiger und umarmte meinen Mann. Ich erfuhr, dass ihre und Gerds Eltern überzeugt und zufrieden gewesen waren bei dem Gedanken an eine Verbindung ihrer Kinder.
Neunzehn Jahre war ich, als ich gleich nach der Schulzeit heiratete. Ich jobbte bei einem Fotografen. Hier entstanden Fotos von mir für die Werbung amerikanischer Konsumgüter.
Siebzig DM erhielt ich für jedes Foto, das angenommen wurde. Ich war fotogen und selbstbewusst und glaubte, die Welt würde zu meinen Füßen liegen. Aber meiner Schwiegermutter gelang es mit nur einem arroganten Blick aus ihren lang bewimperten Augen, dass ich mich klein und hässlich fühlte.
Und ausschließlich diesen Blick ließ sie mir zukommen.
Aus mir unverständlichen Gründen war meine Schwägerin Simone ständig eifersüchtig auf mich. Vielleicht, weil sie meistens in Umstandskleidung herumlaufen musste. Ich glaube, nur die ständigen Schwangerschaften ließen meinen Schwager an dieser Ehe festhalten.
Gleichzeitig erhielt Simone durch ihren Babybauch mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung von der gesamten Familie und erfuhr Rücksichtnahme.
Mein Mann war selten zu Hause. Sein Beruf forderte ihn. Er war Verkaufsleiter einer Firma für Heizungen und Sanitäreinrichtungen mit 60 Mitarbeitern. Viele geschäftliche Gespräche fanden bei einem Essen nach Feierabend statt. An den Wochenenden suchte er Erholung auf der Jagd. Seiner Familie gehörten ausgedehnte Ländereien. Ich hatte dieses Hobby hassen gelernt, aß aus Prinzip kein Wildfleisch. Es kam mir pervers vor, das Töten von Tieren als Hobby.
Die Fasane zum Beispiel wurden in einer Voliere gezüchtet, am Morgen des Treibjagdspektakels freigelassen, damit die erlauchte Jagdgesellschaft zum Abschießen etwas vor die Flinte bekam.
Meinem Schwiegervater war ich offensichtlich nicht unsympathisch, jedoch traute er sich kaum, mir gegenüber positive Gefühle zu zeigen. Er hatte ohnehin kein Stimmrecht in diesem Haus. Fünf Jahre nach meiner Eheschließung starb er.
Ich wünschte mir ein Kind. Mein Alltag war unausgefüllt. Ein paar Werbeaufnahmen, Reiten, Tennis, Shoppen.
Drei Jahre waren wir verheiratet, drei Fehlgeburten hatte ich hinter mir. Die nächste Schwangerschaft erkannte ich erst im vierten Monat. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet.
Es gab keine Anzeichen dafür. Ich blieb schlank, der Bauch rundete sich bis zum achten Monat kaum, dann wurde Laura geboren. Zu früh, ein Unfall. Ich war die große, breite Treppe in der Halle hinabgestürzt. Eine Haltestange vom Treppenläufer hatte sich gelöst. Sicher ein Zufall. Hoffentlich ein Zufall.
Nach drei Tagen im Kreißsaal hielt ich das kleine, zappelnde Bündel im Arm. Die Ärzte hatten dem Kind vor der Geburt kaum Chancen eingeräumt und nun bedurfte es keiner Sonderbehandlung. Die Kleine war gesund, fünfzig Zentimeter lang und fünf Pfund schwer.
Ich war so glücklich, so unbeschreiblich glücklich, wenn ich mich auch von meinem Mann alleingelassen fühlte. Gerd war einer Einladung zu einer Jagd im Harz gefolgt.
Als stolze Mutter kam ich nach Hause, aber meine Schwiegermutter besuchte mich nicht. Obgleich sie nebenan wohnte, schaute sie sich den neuen Nachwuchs der Familie nicht an.
Es war sechs Wochen später. Die Schwiegereltern hatten Gäste. Gerd ging zu ihnen, um vor der Gesellschaft zu fragen, ob sie sich denn ihr Enkelkind nicht einmal anschauen wollte.
Betretenes Schweigen. Dann stand ausschließlich Gerds Mutter auf und folgte ihm in unsere Wohnung. Mich ignorierte sie, beugte sich über das Babybettchen, zog spöttisch die Augenbrauen hoch und meinte lediglich, sie bedaure, dass ihre wirtschaftlichen Mittel durch ihre anderen vier Enkelkinder erschöpft seien und wir nichts erwarten könnten. Sie verließ das Kinderzimmer.
Ich war wieder einmal durch sie zutiefst verletzt und beschämt worden. Gerd hatte sie doch nicht wegen eines Geschenks geholt! In diesem Haus drohte ich zu erfrieren.
Durch meine kleine Tochter hatte ich zwar eine Aufgabe, aber ich fühlte mich in dieser Familie so ungeliebt, dass ich Begegnungen zu vermeiden versuchte. Das war durch die Wohnsituation fast