Bald nach seiner Genesung kehrte Reinhold Stecher zu seiner Einheit zurück, die sich zu dieser Zeit in der Nähe des Weißen Meeres aufhielt. Von hier aus begann ein 3600 Kilometer langer Marsch über Finnland, Lappland und Norwegen, währenddessen noch diverse Abwehrkämpfe gegen die sowjetische Armee geführt wurden, bevor Deutschland und alle seine Streitmächte am 9. Mai 1945 endgültig kapitulierten: „Pausenlos [marschieren wir] durch die Nächte, von Karelien über Finnland und Lappland bis zur Küste Norwegens, und die Nächte wurden immer länger, wir nur noch durch die Polarnacht zogen, durch Nordlicht und Schneestürme, und nie eine andere Rast als das lausige Zelt ohne Boden, auf dem blanken Schnee, und manchmal bei 40 Grad unter Null. Dazwischen waren Einsätze, und danach waren wir weniger, und die weißen Birkenkreuze blieben zurück. Plötzlich tauchte hinter den höher werdenden Hügeln Lapplands das norwegische Hochgebirge auf. Und wir standen in einer klaren Sternennacht endlich auf dem Pass, von dem aus dann die Straße hinunterführte zum Nordmeer. Da ich das Funkgerät hatte, wusste ich, wie wichtig dieser Pass war. Auf der anderen Seite drohte nicht mehr die russische Gefangenschaft. Wir waren im westlichen Sektor der Alliierten. Am Trondheim-Fjord kommen wir in englische Kriegsgefangenschaft. Die Engländer, die kaum sichtbar sind, behandeln uns mit größter Zuvorkommenheit. Ich bin ein Gefangener und habe mich seit Jahren nicht so frei gefühlt wie jetzt. Mit der Kapitulation Deutschlands hat mein Leben begonnen, und ich lasse mich von diesem Gefühl des Davongekommenseins und des Neuanfangendürfens überwältigen.“52
Dabei fand dieser für Reinhold Stecher unvergessliche Aufbruch in eine neue Welt im an sich bedrückenden Milieu der Nachkriegszeit statt, das gezeichnet war von Bombenschutt und dem gravierenden Mangel an allem Lebensnotwendigen. Seine Heimatstadt Innsbruck, in die er nach der Kriegsgefangenschaft 1945 zurückgekehrt war, hatte eine Welle von Luftangriffen zu verschmerzen gehabt, die über die Hälfte aller Gebäude und nahezu zwei Drittel der Wohnungen in Mitleidenschaft gezogen hatte.53 Dennoch war der Wille zum Neuanfang weitgehend vorhanden und stark genug, dass das Leben letztlich in seine geordneten Bahnen zurückfinden konnte und ein Anknüpfen an Früheres ebenfalls wieder möglich wurde: „Ich hatte meinen Berufswunsch [Priester zu werden] durch die ganze Zeit hindurch getragen – ich weiß nicht, warum das ganze Chaos rundherum diese Absicht nie in Frage stellen konnte. Das entscheidendste Gewicht hatte wohl eine gewisse Ergriffenheit vom Heiligen und das Bedürfnis, dem Menschen zu dienen – und das alles auf dem Hintergrund eines unmenschlichen Staates und der Schrecken des Krieges.“54
KAPITEL 3 ___
„Die Botschaft Jesu Christi ist unüberholbar“ 55 Lernen und lehren – Reinhold Stecher als Seelsorger und Religionspädagoge
Tatsächlich zeigte das Leben seine wunderbaren Erneuerungskräfte, erinnerte sich Bischof Paulus Rusch in seinem Anfang der 1980er-Jahre verfassten Erfahrungsbericht über diese frühe Nachkriegszeit: „Die jungen Männer, in deren Augen sich immer noch der tausendmal gesehene Tod spiegelte, waren ernst, strebsam. Sie verlangten nach echtem Neuanfang. Alle eingerückten Theologen, soweit sie zurückkamen, meldeten sich wieder im Priesterseminar. Ein großer Hunger nach Orientierung zeigte sich. Die große Erfahrung war vielmehr die, dass mitten in der Zerstörung, Dunkelheit und Nacht gesundes Leben geheimnisvoll neu aufbricht. So wie es in der Natur immer wieder Frühling wird, so bricht auch im seelisch-geistigen Leben immer wieder ein Frühling auf.“56
Auch Reinhold Stecher kehrte ans Canisianum in Innsbruck zurück und nahm alsbald sein Studium der Theologie wieder auf: „Hier hatten Theologiestudenten aus aller Herren Länder gehaust und die alte Bude mit mehr oder weniger intensivem Studium und einem dosierten Heiligkeitsstreben erfüllt.“57 Wie viele seiner Kommilitonen spürte er allerdings die durch den Krieg verlorengegangenen sechs Jahre, in denen alles Denken einzig und allein auf das Überleben und Durchkommen ausgerichtet war, und die daraus entstandenen Defizite: „Dennoch wollten wir studieren. Und das größte Geschenk der Vorsehung waren zweifellos unsere Lehrer an der Fakultät. Es gab unter ihnen überzeugende und prägende Persönlichkeiten. Nicht nur das wissenschaftliche Format war so beeindruckend – es war die Übereinstimmung von Leben und Lehre, die sie repräsentierten. Auch Träger weltberühmter Namen führten ein höchst bescheidenes Leben. Man hatte immer das Gefühl, dass Theologie nie auf Kosten der Spiritualität betrieben wurde. So ging uns bei den Gebrüdern Rahner, bei Dander und Mitzka, Lakner und Gaechter die reine Welt auf.“58
Neben dem Jesuiten Andreas Jungmann, den Reinhold Stecher des Öfteren in seinen Büchern erwähnte, war eine dieser „überzeugenden und prägenden Persönlichkeiten“ der Theologischen Fakultät in Innsbruck ganz ohne Zweifel der damals schon sehr bekannte und später noch durch seinen unverzichtbaren Beitrag als Peritus beim Zweiten Vatikanum berühmt gewordene Karl Rahner. „In seinem Ringen um das Wort lag so viel Redlichkeit des Denkens und der Tiefe der Visionen, dass er die Hörer einfach in den Bann schlug. Man spürte, dass da ein lebendiger Geist immer wieder aus den viel befahrenen Bahnen der scholastischen Theologie ausbrach – hinein in das Abenteuer des Hinterfragens und des Aufspürens ungewohnter Zusammenhänge. Bei ihm waren die modernen Wissenschaften eingebaut, er bewegte sich in der Welt der Ökumene, der Gegenwart und der Vergangenheit. Ich will nicht behaupten, dass ich ihn in allem verstanden hätte. Aber er war so etwas wie ein Fluglehrer der Theologie, es ging ihm im letzten immer um die große Zusammenschau des Heils. Das war ja bei ihm so beeindruckend, dass er geistig aus einer so komplizierten, problemüberfrachteten Welt voller Fragen und Auseinandersetzungen kam und doch zu dieser letzten persönlichen Schlichtheit des Glaubens fand. Ihm war zutiefst bewusst, dass heute viele Menschen auf dem Weg sind, manche näher, manche weitab. Aber er war auch zutiefst davon überzeugt: So vielfältig sich heute die Seitenarme des religiösen Tastens und Suchens verzweigen und verwirren mögen, es gibt doch eine geheimnisvolle Strömung in ihnen, die zum ewigen Meer drängt, eine Strömung, die wir Gnade nennen und die von jedem Ursprung ausgeht, der gleichzeitig das Ziel aller Dinge ist. Die ganze überbordende Gelehrsamkeit kreiste um eine im Hintergrund glühende Mitte, Christusmysterium.“59 /60
Diese fachliche wie menschliche Bewunderung für Karl Rahner war jedoch nicht nur eine Episode in Reinhold Stechers Studentenzeit, sondern wandelte sich nach und nach in eine lebenslange Verbundenheit mit dem Jesuitenpater, die auch über dessen Tod hinaus reichte und sich mitunter darin zeigte, dass der ehemalige Schüler seinen verehrten Lehrer gegenüber seinen Kritikern immer wieder in Schutz nahm, welche der streitbar Gelehrte damals wie heute hat. Auffallend deutlich wird dieser Umstand in einer Stellungnahme, die Reinhold Stecher bereits als Bischof von Innsbruck traf, nachdem er Karl Rahner, während dessen letzter Stunden, im Krankenhaus besucht hatte, und am 4. April 1984, unter Anwesenheit von Kardinal Hermann Volk, Erzbischof Friedrich Wetter sowie der Bischöfe Paulus Rusch, Karl Lehmann, Egon Kapellari und Ernst Tewes dessen Requiem zelebrierte: „Es war, wie wenn ein Menschenleben nach langer Reise einem Ziel zustrebte, so wie ein großer, breiter Strom zur Mündung kommt, der alle Windungen, Katarakte und Staudämme hinter sich gelassen und viele Schiffe und die Last der tausend Fragen getragen hat und der sich nun dem großen Meer nähert, wo alles einfach wird. Man saß am Krankenbett, konnte mit einem sehr gelösten, ja fast heiteren Menschen reden – und dabei musste man an die Bücherstellagen zu Hause mit der langen Reihe der Rahner-Bände denken, an das gewaltige Wissen und das vielfache Ringen mit den vielfältigen Problemen, die nun einmal diese Epoche dem wachen Glaubenden aufgegeben hatte. Und doch hatte man keinen müden Menschen vor sich, keinen problemzerriebenen, sondern einen sehr gefassten, mit einer fast fröhlichen Distanz zu sich und seinem Werk (eine Haltung, die einigen seiner harten Kritiker abzugehen scheint). Vielleicht war es das, was diesen großen Theologen so menschlich und sympathisch machte: Dass er zutiefst um die Schwierigkeit, die Mühsal, die Unsicherheit und die Gefährdung des Glaubens an Christus in unserer Zeit wusste, und zwar mit einem Wissen, das nicht nur aus einer professoralen Betätigung, sondern aus eigenem