Und vielleicht hat in diesem Zusammenhang auch das Wissen darüber entscheidend mitgespielt, dass etwa drei Jahre zuvor Otto Neururer dieselben Stationen dieser Tortur mitgemacht hatte, bevor er in Buchenwald sein Leben lassen musste, dass Reinhold Stecher erkannte, dass nicht jeder dazu bestimmt war, ein „Held“ zu sein. Lange nach dem Krieg sollte er unter anderem einem ehemaligen SS-Mann wiederbegegnen, der ihn während seiner Gefangenschaft bewacht hatte, und mit ihm ein Gespräch über die Lebensumstände dieser gemeinsamen Vergangenheit beginnen: „Wenn man einen Menschen mehr kennt, werden die Urteile alle anders. Und da der liebe Gott von uns viel mehr weiß, hoffe ich auch, dass seine Urteile milder ausfallen.“42
Später wurde Reinhold Stecher dann aus dem Landesgerichtlichen Gefangenenhaus in der Schmerlinggasse in das Polizeigefängnis – dem ehemaligen Hotel „Goldene Sonne“ – in der Adamgasse überstellt, nur wenige Hundert Meter von der Wohnung seiner Mutter Rosa entfernt. Von hier aus wurden an jedem Freitag die Transporte in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald organisiert, und auch dem „politischen Gefangenen“ Reinhold Stecher wurde alsbald mitgeteilt, dass er auf einer der Sammellisten stünde: „Wir haben gewusst, was ein KZ ist. Normalerweise eine Reise ohne Wiederkehr. Vor allem dann, wenn ein Häftling mit dem Vermerk ‚RU‘ dorthin eingeliefert wurde. ‚RU‘ heißt ‚Rückkehr unerwünscht‘.“43
Die Zeit bis zum drohenden Abtransport wurde offiziell vor allem beim bewachten Im-Kreis-Gehen verbracht, aber bedingt durch einen bürokratischen Fehler war tröstlicherweise auch das geheime Abhalten der Eucharistiefeier möglich: „Durch einen offensichtlichen Irrtum der Gestapo werde ich mit meinem priesterlichen Freund Georg Schuchter in eine Zelle gesperrt. Ein äußerst mutiger Polizeibeamter namens Huber, der alles für uns wagt, schmuggelt uns Hostien und Messwein in die Zelle. Wir trainieren lange, bis wir alles blitzschnell verräumen können. Als Altar dient der winzige Klapptisch, darüber ein Taschentuch, als Kelch der Verschluss des Rasierseifenbehälters. Ich muss mich mit dem Hinterkopf vors Guckloch stellen, damit wir von dort nicht überrascht werden können. Dann wird die heilige Messe gefeiert.“44
Es kann nicht eindeutig geklärt werden, was letztlich dazu geführt hat, dass Reinhold Stecher unerwartet von der Transportliste in eines der Konzentrationslager gestrichen und schlussendlich nach zweieinhalb Monaten Gefangenschaft freigelassen wurde. Als am wahrscheinlichsten anzunehmen ist eine geglückte Intervention durch den früheren Innsbrucker Bischof Paulus Rusch, der von Rosa Stecher sofort nach der Verhaftung über das Schicksal ihres Sohnes informiert worden war. Reinhold Stecher selbst sagte hingegen in etlichen Stellungnahmen darüber aus, dass er nicht wisse, was dieses „Wunder“ bewirkt habe, gab aber auch wiederholte Male unmissverständlich an, dass er fest daran glaubte, es sei ein Werk des Märtyrerpfarrers Otto Neururer, den er seinerseits – nach dessen Seligsprechung im Jahre 1996 – als Patron für die Familie ebenso anrief wie als Fürsprecher für die Priester.45
Um der Gestapo und ihren willkürlichen Zugriffen zwischenzeitlich zu entkommen, schickte Bischof Rusch die verbliebenen Seminaristen auf einen Choralkurs nach Beuron in Deutschland. „Es ist der Tausch mit einer wunderbaren, fast unwirklichen Welt.“ Allerdings muss Reinhold Stecher davor noch einen Revers unterschreiben, „dass ich bei der geringsten politischen Beanstandung mit dem KZ zu rechnen hätte“, und wird bald danach einberufen. „Nun kam ich nach einigen Wochen von dort nicht ins KZ, sondern an die Front. Ich war erst achtzehn, und da war ich als Kanonenfutter geeigneter.“46
Im Herbst 1941 rückte Reinhold Stecher nach Landeck zur Winterausbildung in die 7. Gebirgsdivision „Bergschuh“ ein, welche dazu bestimmt war, über Schweden abzuspringen – dieser Plan wurde jedoch fallengelassen, als in Schweden die Generalmobilisierung startete: „Als Theologe und ehemaliger Häftling werde ich nicht befördert. Es reicht nur bis zum Obergefreiten. Aber als Funker muss ich wenigstens nie schießen.“47
Das neue Vorgehen der Machthaber sah demnach vor, am Krieg gegen die Sowjetunion teilzunehmen, der sich jedoch nicht wie geplant entwickelte, weswegen sich die Gewaltspirale ab Mitte 1941 in Russland stetig nach oben schraubte: „Ich habe die heulenden Sirenen und herunterjagenden Bomben heute noch im Ohr – und die gewaltigen Explosionen im gefrorenen Boden. Ich habe dem Wahnsinn gedient. Die Kälte, das Elend und der tausendfache Tod rundherum hatten uns gleichsam in Trance erstarren lassen. Ich erinnere mich noch gut daran. Man konnte und durfte keine Gefühle aufkommen lassen. Das Leben war ein böser Traum geworden. Es war, als wollte man die Wirklichkeit nicht recht zur Kenntnis nehmen. Und doch war sie da, mit ihrer ganzen Sinnlosigkeit und Angst. Und ich gebe eines ganz offen zu: Wenn Gott es nicht selbst gesagt hätte, dass er die Liebe ist – aus dem täglichen Lauf der Welt allein würde ich es nicht glauben.“48
Reinhold Stecher nahm an einem der wahrscheinlich blutigsten Gefechte des Zweiten Weltkriegs, der Schlacht am Ilmensee im Kessel von Demjansk, teil, wo seit Anfang 1942 rund 100.000 deutsche Soldaten von der Roten Armee eingeschlossen um ihr Leben kämpften. Am Karfreitag desselben Jahres durchschlug die Kugel eines sibirischen Scharfschützen seinen linken Unterarm,49 und er wurde nach Kaunas in Litauen ins Lazarett eingeliefert, wo er sich mit dem Wolhynischen Fieber (Schützengrabenfieber), einer malariaartigen akuten Infektionskrankheit, ansteckte, was ihn wiederum für einige weitere Wochen von der Front fernhielt. „Zunächst ließ sich also Kaunas gut an. Die große, für damalige Begriffe sehr moderne Klinik barg eine vierstellige Zahl von Verwundeten. Man war gut betreut und genoss den Traum eines weißen Bettes und eines von keinen Stalinorgeln und Panzergranaten gestörten Schlafes.“50
Zwei Erlebnisse dieser Zeit hinterließen neben der körperlichen Verwundung und den viel schmerzlicheren seelischen Verletzungen ebenfalls Spuren, die Reinhold Stecher sein Lebtag nicht vergessen würde: Zum einen besuchte der Reichsleiter der besetzten Ostgebiete und Verfasser verschiedener rassenideologischer Schriften, wie des Buches „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, Alfred Rosenberg, die Krankeneinrichtung. In ihm erkannte Reinhold Stecher nicht nur einen geistigen Wegbereiter der NS-Diktatur und ihrer maßlosen Verbrechen, sondern auch einen der Hauptverantwortlichen für dieses unsagbare Leid: „Ich kann nicht sagen, dass ich Rosenberg gleichgültig entgegengesehen habe. Da war nun einer von jenen, hinter denen die ganze Welt des Schreckens stand, all das, was Juden und bekennende Christen, rassistisch ‚Minderwertige‘ und ‚Lebensunwerte‘ bedrängte – der organisierte Hass, die Propagandalüge, die absolute Rechtlosigkeit, die Willkür in den Gefängnissen, die Konzentrationslager, die Verhaftungen, die Bespitzelung, die Verhöre, die langsam verrinnenden Stunden in der Isolationshaft, die immer näher kommenden Stiefel, die hart durch den Gang hallen, die knirschenden Schlüssel, der Ruf: ‚Raus zum Verhör!‘ Da ist er nun – Alfred Rosenberg, einer von denen, die dieses ganze Elend zu verantworten haben.“
Zum anderen war eine Begegnung mit einem jüdischen Häftling maßgeblich für viele Entscheidungen, die Reinhold Stecher in seinem weiteren Leben und vor allem als Bischof von Innsbruck treffen musste, und es lässt sich ebenfalls darin – neben dem gewachsenen Toleranzgedanken, den ihm bereits seine Mutter als Kleinkind eingepflanzt hatte – sein vehementes Eintreten für die brüderliche Aussöhnung des Christentums mit dem Judentum verstehen. „Wenige Tage später streifte ich im Schlafrock des Patienten durch das Haus und gerate ins Souterrain, wo die Versorgungseinrichtungen und Magazine untergebracht sind. Ich wandere durch schlecht beleuchtete Gänge und alle möglichen Gerüche. Und dann komme ich zu einer schweren Schwingtür. Ich reiße sie auf – und vor mir steht ein jüdischer Häftling, im Drillich mit dem Judenstern, abgehärmt,