Er entkorkte eine Flasche französischen Rotwein, füllte sein Glas bis zum Rand, nahm einen Schluck und setzte sich an den Küchentisch, um als Erstes die Schuldscheine durchzusehen und nach ihrer Fälligkeit zu ordnen. Die achthundert Thaler, die er Meir Rosentreter zurückzuzahlen hatte, wären schon gestern fällig gewesen, doch er hatte keine Möglichkeit gefunden, so viel Geld aufzutreiben. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er daran gedacht, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Und wäre Marie Therese nicht zufällig des Weges gekommen, läge er in diesem Moment schon in der Leichenhalle.
Er schrak zusammen. Unten hatte jemand am Klingelzug gerissen … Er brauchte gar nicht ans Fenster zu treten und nach unten zu schauen, er wusste auch so, wer da Einlass begehrte: Meir Rosentreter natürlich. So zu tun, als sei er nicht zu Hause, wäre vergeblich gewesen, dazu war der Schein seiner Lampe zu hell. Außerdem konnte er sich nur noch dadurch retten, dass er mit Rosentreter redete und ihn dazu brachte, ihm ein weiteres Moratorium zu gewähren. Machte er nicht auf, lief der Geldverleiher morgen früh zum Gericht, um ihn anzuzeigen. Also ging er nach unten, schloss auf und bat Rosentreter einzutreten, um mit ihm in Ruhe über alles zu reden. »Oben bei mir in der Küche, da liegen alle Bücher …«
»Wo auch immer«, sagte Rosentreter, als er unten ablegte. »Doss gelt fargnigt und pajnigt ale.«
»Wie?«
»Das Geld vergnügt und quält alle«, übersetzte Meir Rosentreter.
»Geld genug liegt oben bei mir im Geheimfach«, sagte Krimnitz. »Sie werden’s gleich sehen.«
»Das wäre meines Herzens Freude und Wonne«, erwiderte Rosentreter. Es war seine Lieblingswendung. Diesmal gebrauchte er sie in der Version der Luther-Bibel, denn christliche Freunde hatten ihm gesagt, dass der 6. Vers des 63. Psalm so besser klänge und zu verstehen sei als in der Fassung von Leopold Zunz, wo es ja hieß: »Wie von Fett und Mark ist gesättigt meine Seele, und mit Jubellippen lobsingt mein Mund.« Das mit den Jubellippen mochte noch angehen – aber Fett in der Seele? Krimnitz waren solche sophistischen Fragen egal, er nickte nur und ging voran. Er hatte das Gefühl, zum Richtplatz geführt zu werden. Der Henker war dicht hinter ihm. Wie herrlich wäre es gewesen, wenn ihn statt des kleinen Rosentreter eine Frau wie Marie Therese aufgesucht hätte oder wenn er den Banquier wegen der Anlage eines Vermögens empfangen würde und nicht wegen seiner Schulden.
Als ihm Meir Rosentreter dann gegenübersaß, fiel Krimnitz auf, wie ähnlich sie sich sahen. Beide hatten den gleichen kräftigen Körperbau, was bei einem Juden doch erstaunte, und Haare so schwarz, wie es sehr selten vorkam in Berlin. Bei Krimnitz mochte das daran liegen, dass sein Vater ja Franzose war. Als er daran dachte, fiel ihm sogleich eine Geschichte ein, mit der sich Rosentreter vielleicht erweichen ließe.
»Ich habe Nachricht aus Le Havre, dass mein leiblicher Vater endlich gefunden worden ist. Es soll ein gewisser Louis Virenque sein, zur Zeit Kapitän auf einem Handelsschiff, ein wohlhabender Mann. Ich habe ihm schon geschrieben. Wenn er erfährt, dass er einen Sohn hat, der unverschuldet in Not geraten ist, wird er mich sicher auslösen.«
Rosentreter strich sich über die Haare und lachte. »Eine schöne Geschichte, Herr Krimnitz, aber wie sagte mein Vater immer: Hob ich nit kejn kowed, wil ich lechol hapochess hobn doss gelt. Habe ich keine Ehre, will ich wenigstens Geld haben.«
»Fassen Sie mal einem nackten Mann in die Tasche!«
»Soll das heißen, Herr Krimnitz, dass Sie auch heut nicht zahlen können?«
»Ja … leider …«
Meir Rosentreter stand auf. »Dann werde ich nicht anders können, als …«
Krimnitz presste die Handflächen gegeneinander und hob beschwörend die Arme. »Ich bitte Sie, haben Sie doch Mitleid mit mir!«
Rosentreter wandte sich zum Gehen. »Ich brauche das Geld so dringend wie Sie, und es ist mein Geld. Wenn Gutherzigkeit mein Tod ist, dann …«
»Wenn ich hier alles verkaufen muss, bin ich hinterher ein Bettler!«
»Ich warte jetzt ein halbes Jahr, und länger kann ich nicht mehr warten!« Damit war Rosentreter an der Treppe angekommen, die zwar ziemlich breit war, aber doch sehr steil nach unten führte.
»Raus hier!«, schrie Krimnitz. Hass flackerte in ihm auf, und ehe er sich’s versah, hatte er dem Geldverleiher mit der rechten Faust einen kräftigen Stoß versetzt.
Rosentreter stürzte die Treppe hinunter, schlug hart auf die Stufen auf, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich unten liegen, ohne sich noch einmal zu rühren. Krimnitz war sofort gewahr, dass Rosentreter tot sein konnte. Er erschrak nur mäßig darüber. Sein erster Gedanke war: Der hartherzige Geldverleiher hatte es nicht anders verdient. Aber ihm war auch auf der Stelle klar: Lief er jetzt zur Polizei und führte sie zur Leiche von Rosentreter, dann bestraften sie ihn – und zwar wegen Mordes. Das hieß, dass er am Galgen endete, zumindest aber in der Hausvogtei einzusitzen hatte, bis er ins Greisenalter kam.
»Nein!«, schrie er da. »Nein! Nicht dieses Lumpen wegen.« Und dann überlegte er lange, wie er sich noch retten konnte. Schließlich hatte er einen Plan: Am besten, er zog sich die Kleider seines Opfers an, sofern sie nicht voller Blut waren oder jedenfalls schnell gereinigt werden konnten, und trat dann als Meir Rosentreter eine Reise an.
Nach einer knappen Stunde war er so weit. Er lief zur Oberbaumbrücke, überquerte die Spree und pfiff sich am Stralauer Thor eine Droschke herbei. »Zum Bahnhof der Frankfurter Eisenbahn.« Immer bemüht, so wie ein Jude zu sprechen, also »nu« zu sagen, »du megst« oder »e« statt »ein«, klagte er dem Kutscher sein Leid: dass er noch nach Frankfurt an der Oder müsse, um dort Geldgeschäfte abzuwickeln. Auch am Fahrkartenschalter im Bahnhof redete er mehr als nötig und ließ zweimal seinen angeblichen Namen fallen: »So wahr ich Meir Rosentreter heiße …« Der Beamte sah zwar ein wenig einfältig aus, das aber merkte er sich vielleicht.
Im Coupé war Krimnitz allein, was ihm zupasskam, denn so gab es keinen Zeugen dafür, dass er den Zug schon in Erkner verlassen würde. Schnell suchte er mit seinem kleinen Koffer in der Hand die Toilette auf und schloss sich ein.
Hineingegangen war er als Meir Rosentreter, heraus kam er als Louis Krimnitz. Im Koffer steckten jetzt die Sachen des Geldverleihers. Ganz unauffällig löste Krimnitz nun ein Billett nach Berlin. Beim Warten auf den Zug gab er sich alle Mühe, niemandem aufzufallen. Dass die Laternen auf dem Perron nur matt leuchteten, kam ihm dabei zu Hilfe. Im Abteil setzte er sich in die dunkelste Ecke, und er hatte offenbar Glück, denn keiner der übrigen Fahrgäste schien ihn zu kennen. Zwar wäre es noch keine Katastrophe gewesen, einen Bekannten zu treffen, aber besser war es schon, wenn ihn niemand auf der Strecke sah. Am Bahnhof verzichtete er auf eine Droschke und lief zu Fuß nach Hause, so schnell es eben ging, ohne dass er auffiel. Denn Rosentreters Leiche musste fortgeschafft werden – und die Nacht war kurz.
Kapitel 3
DER 6. MÄRZ 1856 fiel auf einen Donnerstag – jenen Wochentag, den Friedrich Silberstein am wenigsten mochte, klang das Wort doch so martialisch. Überhaupt waren ihm die germanischen Götter samt und sonders unsympathisch, hießen sie nun Donar oder wie auch immer.
Gemessenen Schrittes ging er über die Schlossbrücke und schwelgte in Erinnerungen. Hier hatte er als Geselle gearbeitet und mehr gelernt als je zuvor. Kein Wunder, war doch sein Lehrmeister kein Geringerer als der große Karl Friedrich Schinkel gewesen. Und seine Präzision wie seine Tatkraft hatten dem Meister so gut gefallen, dass er ihn auch geholt hatte, als jenes Museum am Lustgarten, das später das Alte Museum genannt wurde, und die Friedrichswerdersche Kirche hochzuziehen waren.
Über einen Schleusenarm der Spree führte die Brücke, war 156 Fuß lang und hatte eine Breite von genau 104 Fuß. Die Maße hatte Friedrich Silberstein noch nach einem Vierteljahrhundert im Kopf. Die Fahrbahn