»Aber am liebsten wäre mir eine große Hochzeit …« Sarah Silberstein sah verträumt aus dem Fenster. »Du und Katharina. Ich habe geträumt, dass ihr euch zu Pessach verloben werdet.«
Aaron hatte Mühe, die Contenance zu wahren. »Mutter, ich bin mit Katharina zusammen aufgewachsen wie mit einer Schwester, und wie soll ich da mit ihr …« Er lief rot an, weil die Worte, die ihm fast über die Lippen gekommen wären, unschicklich waren.
Sein Vater lachte. »Das kommt mit der Ehe.«
»Darauf will ich mich nicht verlassen.« Er wollte hell entflammt sein und nicht nur glimmen.
»Sie ist eine gute Partie«, sagte sein Vater vorsichtig. »Und mit ihrem Geld könnten wir ganz anders dastehen, wenn es um große Bauten geht.«
Die Diskussion wäre noch lange so weitergegangen und hätte sich wie immer im Kreise gedreht, wenn nicht plötzlich sehr heftig am Klingelzug gerissen worden wäre.
Friedrich Silberstein sprang auf. »Ah, doch noch Meir Rosentreter!« Und er gab seinem Sohn einen Wink, zur Tür zu eilen und zu öffnen.
Rosentreter war es aber nicht. Vor der Tür stand nicht der Geldverleiher, sondern der Kommissarius, der für die Gegend um den Hackeschen Markt zuständig war, ein untersetzter, bärbeißiger Mann mit Namen Buntrock, den die Berliner einen »voll geschissenen Strumpf« nannten. Dies allein hätte Aaron Silberstein nicht in Verwunderung versetzt, doch neben dem Polizeibeamten stand kein Geringerer als Dr. Wilhelm Stieber, der Direktor der Kriminalpolizei und Atlatus des Polizeipräsidenten v. Hinckeldey, von Friedrich Engels als einer der »elendsten Polizeilumpen des Jahrhunderts« bezeichnet.
Aaron Silberstein war zu sehr Jurist, um nicht die Kunst der Selbstbeherrschung eingeübt zu haben. Wer sich von seinen Emotionen übermannen ließ, hatte von Anfang an die schlechteren Karten. Also bemühte er sich um eine subtile Ironie. »Ah, die Herren sind gekommen, um Ludwig Urban hier bei mir zu suchen und festzunehmen.«
Das war derart frech, dass Dr. Stieber erst einmal schlucken musste, denn Ludwig Urban, ein Tierarzt, war einer der bürgerlichen Anführer der Märzrevolution von 1848 gewesen und hatte anfangs ausgerechnet ihn, der die Liberalen jetzt gnadenlos jagte, zum Verteidiger gehabt. Doch der Direktor der Kriminalpolizei fasste sich schnell und wurde inquisitorisch. »Das ist ja interessant, dass Sie Ludwig Urban so gut kennen …«
»Ich weiß nur, was alle wissen: dass er in Friedersdorf wohnt.«
»Er will aber nach Berlin zurück, weil es seiner Frau auf dem Dorf nicht recht gefällt«, sagte Dr. Stieber. »Wir dürfen uns dann einmal bei Ihnen umsehen …«
»Aber gern … Auch mein Vater wird sich freuen.« So ausgeschlossen schien Aaron dies gar nicht einmal, erzkonservativ, wie der war. Jetzt erst wurde ihm klar, dass Dr. Stieber vielleicht etwas ganz anderes bei ihm suchte: Schriften seines Freundes Wilhelm Blumenow. Der hatte sich nämlich mit Daniel Benda und einigen anderen zusammengesetzt, um zu überlegen, ob man den »Volksverein«, der sich 1848 aufgelöst hatte, nicht wieder beleben könne und vielleicht die Gründung einer Partei mit dem Namen »Deutscher Volksverein« wagen solle. Aaron selbst liebäugelte eher mit der linksliberalen Fortschrittspartei, die von Rudolf Virchow gegründet worden war, hatte sich aber noch nicht entschließen können, ihr beizutreten. All dies musste bei Hinckeldeys Schnüfflern auf hohes Interesse stoßen, doch sie fanden nichts, sosehr sie sowohl bei Aaron als auch bei seinem Vater alles auf den Kopf stellten.
Als sie wieder abzogen, war der erboster als Aaron selber.
»Wenn sie bei dir alles durchsuchen, dann mag das ja noch angehen, schließlich ist dieser Blumenow dein Freund, und der hat nichts weiter im Sinn, als die Monarchie abzuschaffen. Aber ich bin schließlich ein absolut königstreuer Mann … Ich kann mir das Ganze nur so erklären, dass der Rana den Dr. Stieber auf mich gehetzt hat. Dieser üble Verleumder, dieser Lump!«
AARON SILBERSTEIN machte sich auf den Weg in seine kleine Anwaltskanzlei in der Brüderstraße, die den Schlossplatz mit der Petrikirche verband. Das war vom Hackeschen Markt nicht gerade meilenweit entfernt, aber zu Fuß doch ein ganz schönes Stück, zumal es trotz des nahenden Frühlings nasskalt war. Märzenschnee lag in der Luft. Das Königsschloss, das er als glühender Anhänger der 48er Revolution am liebsten in die Luft gesprengt hätte, umging er weitläufig. Dies auch in der geheimen Angst, einmal so einer zu werden wie der ehemalige Storkower Bürgermeister Heinrich Ludwig Tschech: Der hatte am 26. Juli 1844 im Portal des Schlosses auf den König geschossen. Auf dass Aaron Silberstein gar nicht erst in Versuchung geriet, nahm er den Umweg über die Spandauer Brücke, die Neue Friedrichstraße und die Spandauer Straße in Kauf und erreichte die Brüderstraße, nachdem er die Spree am Mühlendamm überquert hatte und ein Stück die Gertraudenstraße entlanggegangen war, erst an ihrem südlichen Ende, das heißt an der Petrikirche.
»Sand, weeßer Sand!«, schrie ihm jemand ins Ohr. Die Sandwagen kamen aus den Rehbergen im Norden oder vom Kreuzberg im Süden, denn die Hausfrauen brauchten ihn zum Bestreuen der weißgescheuerten Dielen. Als Nächstes hemmte ein Bücklingswagen seinen Lauf, dann ein Kolporteur mit seinem Karren. Der brachte seine Schundromane, seine Geister- und Rittergeschichten in die Dienstbotenkammern, vielleicht auch die Neuruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn.
Als Aaron Silberstein die Petrikirche vor sich sah, stieß er fast mit seinem Freund Wilhelm Blumenow zusammen. Der ernährte sich, seit er 1848 auf den Barrikaden gekämpft und dadurch seinen Posten als Assessor im Justizministerium verloren hatte, als kleiner Zeitungsschreiber mehr schlecht als recht und war gezwungen, ständig durch die Stadt zu streifen und auf ein Ereignis zu hoffen, das Stoff für ein paar Zeilen hergab.
»Ich hab was für dich«, sagte Aaron Silberstein, kaum dass sie sich begrüßt hatten.
Blumenow lachte. »Du willst auch konvertieren?«
»Nein. Rosentreter ist ganz offenbar verschwunden.«
»Klar, bevor er dich zum Schwiegersohn bekommt, wandert er lieber nach Amerika aus.«
»Nein, ich bin ernsthaft besorgt: Er hat Katharina nichts von einer Reise oder Ähnlichem erzählt, und es gab auch keinen Streit zwischen ihnen, jedenfalls ist er gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«
Blumenow nahm die Sache noch immer heiter. »Es soll ja Frauen geben, die es schaffen, einen Mann wenigstens eine Nacht lang zu fesseln.«
»Unsinn, so einer ist er nicht. Vor Katharinas Mutter hat er keine andere Frau besessen – und nach ihr auch nicht.«
»Hm …« Blumenow sah den Turm von St. Petri hinauf. »Nur der Himmel mag wissen, was da geschehen ist. Aber was interessiert sich der Himmel schon für uns.«
»Gehst du der Sache mal nach?«
»Ja, mache ich.« Wilhelm Blumenow zog seinen Block hervor und machte sich Notizen. Dabei fiel sein Blick auf eine kleine Eintragung, die da lautete: »Tharah Seligsohn hat mir wieder tüchtig die Leviten gelesen.« Er zeigte sie dem Freund. »Hat dir dein Schwager gesagt, dass er mich gestern bei Stehely getroffen hat …«
»Nein, das hat er nicht. Aber kein Wunder, da du in seiner Gunst sowieso ganz unten stehst.«
Der Grund dafür war ganz einfach: Kaum majorenn geworden, war Wilhelm Blumenow konvertiert. »Da es sowieso keinen Gott gibt, sondern der Kosmos ein sinnloser Ablauf chemischer und physikalischer Prozesse ist«, hatte er kühn erklärt, »erscheint es mir völlig egal zu sein, welcher Religion man angehört.« Stark beeinflusst hatte ihn bei dieser Sicht der Dinge ein gewisser Kaspar Schmidt, ein ehemaliger Lehrer aus Bamberg, der 1845 unter dem Pseudonym Max Stirner eine Schrift mit dem Titel Der Einzige und sein Eigentum verfasst hatte. Darin hatte Wilhelm Blumenow zwei Sätze gefunden, die sozusagen sein Leitstern geworden waren: »Meine Sache ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich.« Auf die Religion bezogen hieß das