Pessach sollte an die Befreiung der Kinder Israels aus der Knechtschaft in Ägypten vor mehr als dreitausend Jahren erinnern. Rahel Seligsohn, unterstützt von Rebekka und ihrem jüdischen Dienstmädchen, hatte mit den Pessach-Vorbereitungen alle Hände voll zu tun. Das Einkaufen war mühsam, denn es mussten alle Lebensmittel vermieden werden, die Chamez enthielten, also Gesäuertes. »Denn wer Gesäuertes isst, die Seele wird aus Israel vernichtet, vom ersten Tage bis zum siebenten Tage.« Chamez war jede der fünf Getreidearten – Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Spelt –, wenn sie für mindestens achtzehn Minuten mit Wasser in Kontakt gekommen war, weil von solcherlei Korn oder Mehl angenommen wurde, dass der Säuerungsprozess begonnen hatte. Nur Mazzot durften gegessen und im Hause aufbewahrt werden: ungesäuerte und auf spezielle Art gebackene dünne Brotscheiben.
Alle Öfen und Herde mussten für Pessach gekaschert, das heißt durch bestimmte Maßnahmen wieder koscher gemacht werden. Bei Gefäßen und Geräten geschah dies mit heißem Wasser, bei Bratpfannen und -spießen, Backblechen, Backöfen und Herden dadurch, dass man sie »glühte«, also der Hitze des Feuers aussetzte.
Als Tharah Seligsohn in der Nacht vor Pessach nach Hause gekommen war, begann die zeremonielle Suche nach Chamez. An ihr hatten die Kinder immer große Freude, denn sie durften vorher Brotstücke verstecken, damit sicher war, dass Chamez auch wirklich gefunden wurde. Tharah Seligsohn zündete eine Kerze an und ging mit ihr von Zimmer zu Zimmer, um Chamez zu suchen. Dann folgten Keller und Dachboden, denn auch hier war vielleicht gegessen worden. Alle Krümel wurden mit einer Feder zusammengefegt und kamen auf einen großen Holzlöffel, um am nächsten Morgen verbrannt zu werden.
»Wie viele Stücke hast du gefunden?«, fragte Rebekka ihre Mutter.
»Vier.«
»Stimmt.« So viele Brotstücke hatten sie versteckt.
Tharah Seligsohn konnte nun Bittul sagen: »Aller Sauerteig und alles Chamez, das in meinem Besitz ist, welches ich nicht gesehen und nicht vernichtet habe, soll nichtig und besitzerlos sein wie der Staub der Erde.«
Die Vorbereitungen für den Sederabend traf Rahel Seligsohn ebenso mit Umsicht wie mit freudigem Herzen. Es war eine Menge zu beschaffen und zuzubereiten: Sellerie und Kartoffeln für den Karpass, ferner Bitterkraut, Maror, oder ersatzweise Meerrettich und schließlich eine bestimmte Mischung aus geriebenen Äpfeln, Nüssen und Wein, mit Zimt gewürzt, die Charosset. Hinzu kamen Wein, Mazza, ein Schälchen Salzwasser, ein auf offenem Feuer gerösteter Knochen und ein gekochtes Ei.
Alles hatte seine tiefere Bedeutung. Die Mazza sollte vor allem an die Eile erinnern, mit der die Israeliten Ägypten zu verlassen gehabt hatten – so schnell, dass der Teig keine Zeit hatte zu säuern. Wein stand für Freude und Frohsinn, für die Erlösung Israels. Das Bitterkraut symbolisierte das Leiden der Israeliten während der Knechtschaft, die Charosset den Mörtel, den sie in Ägypten benutzten, das Salzwasser die im Unglück vergossenen Tränen und der Karpass Fruchtbarkeit und immer neue Hoffnung für die Zukunft. Die Beza, Knochen und Ei, sollte an die Zerstörung des Tempels und die Sklavenarbeit gemahnen, wobei das Ei ein traditionelles Symbol der Trauer war.
Aber noch anderes war auf den Sedertisch zu stellen. So durfte ein Becher Wein für den Propheten Elija nicht fehlen, der das Kommen des Messias ankündigen sollte. Nicht vergessen werden durfte auch, dem Hausherrn, der den Seder gab, drei Scheiben ungesäuerten Brotes und jedem Gast eine Haggada auf den Tisch zu legen.
Das Anmieten der beiden Pferdefuhrwerke, die die Gäste von der Ostbahn abholten, hatte Rahel ihrem Mann überlassen. Es klappte auch alles bestens, und zur festgesetzten Stunde konnte sie ihre Lieben in die Arme schließen. Ihre Eltern waren gekommen, Friedrich und Sarah, ihr Bruder Aaron und ihr Onkel Jason, dazu Meir Rosentreter und dessen Tochter Katharina.
Für die sie argwöhnisch beobachtenden Strausberger waren sie eine verschworene Gemeinschaft, »die Juden« eben, einer gleich dem anderen. Aber das täuschte, denn zwischen ihnen gab es erhebliche Unterschiede. Zählte Tharah Seligsohn zur jüdischen Neo-Orthodoxie und suchte so gesetzestreu zu leben, wie es in der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, vorgegeben war, so war Jason Silberstein das genaue Gegenteil. Er fühlte sich als freischwebender Intellektueller, ja fast als Atheist, der alles Jüdische nur mitmachte, weil er es so putzig fand. Friedrich, Sarah und Aaron Silberstein, aber auch Katharina Rosentreter wurden den Liberalen zugerechnet. Friedrichs liberales Judentum ging mit einer politisch konservativen und königstreuen Ausrichtung einher, während seine Frau Sarah und sein Sohn Aaron sozialdemokratischen und republikanischen Gedanken ganz und gar nicht abgeneigt waren. Meir Rosentreter schließlich konnte alles sein – es kam immer ganz auf die Haltung seiner jeweiligen Geschäftspartner an. Da die Juden im kleinen Strausberg über kein eigenes Gotteshaus verfügten, musste der Pessach-Abendgottesdienst in der improvisierten Haussynagoge stattfinden. Gleich danach begann der Seder.
Tharah Seligsohn trug jetzt einen weißen Überwurf, ein Zeichen religiöser Reinheit. Er erhob sich aus seinem sofaartigen Sessel, und auch alle anderen standen auf. Die Ordnung des Abends wurde genau eingehalten, aber was richtig war und was nicht, wusste eigentlich nur noch der Hausherr ganz genau. Er zitierte Kiddusch. Danach sagten alle »Amen« und tranken – bis auf die Kinder – den ersten Becher Wein. Er symbolisierte die erste Wendung, mit der Gott die Herausführung seines Volkes aus Ägypten ankündigte.
Dann brachte Rahel einen Becher und eine Schüssel an den Tisch und goss Wasser über die Hände ihres Mannes.
Jeder Anwesende nahm sich nun etwas Gemüse, tunkte es in das Salzwasser und sprach: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Frucht der Erde geschaffen.«
Tharah Seligsohn griff sich danach die mittlere Mazza und brach sie in zwei Teile. Den einen legte er zurück, der andere wurde in einer Serviette für den Afikoman beiseite gelegt, mit dem das Festmahl beschlossen wurde.
Nun wurde reihum die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt, und die Kinder konnten ihre Fragen stellen. Danach trank man, nach einem Segensspruch, den zweiten Becher Wein. Alle standen auf und gingen zum Waschbecken, um sich die Hände zu säubern.
Tharah Seligsohn nahm anschließend die verbliebenen zweieinhalb Mazzot und sagte folgende Segenssprüche: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Brot aus der Erde hervorbringt« und »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, Mazza zu essen«. Danach brach er von den Mazzot Stücke ab und gab sie den Tischgenossen zu essen.
Alle tunkten eine kleine Menge Bitterkraut in Charosset und aßen es mit einem weiteren Segensspruch. Als man damit fertig war, legte man Bitterkraut auf ein Stück Mazza, um an den großen Weisen Hillel zu erinnern, der es zur Zeit des Tempels in Jerusalem so gehalten hatte. »Endlich!«, rief Jason Silberstein, denn nun wurde die reguläre Mahlzeit serviert: Gefillte Fisch natürlich.
Jeder bekam nun von der zuvor versteckten halben Mazza, dem Afikoman, ein Stück sozusagen zum Nachtisch.
Die Weinbecher wurden zum dritten Mal gefüllt und nach dem Segensspruch geleert.
Der Hausherr sprach nun einige Psalmen, und man sang Lieder zum Lobe Gottes. Dann wurde der vierte Becher Wein getrunken.
Tharah Seligsohn schloss den Seder mit der Erklärung, dass er hoffe, die Sederfeier habe Gottes Wohlgefallen gefunden. Dann sang man gemeinsam Le-Schana ha-Ba’a bijruschalajim ha-Bnuja – Nächstes Jahr im wiedererbauten Jerusalem!
Rahel Seligsohn war glücklich, die Gäste zufrieden zu sehen. Harmonie in Familie und engem Freundeskreis ging ihr über alles. Nun musste sie die Kinder zu Bett bringen und ihnen noch die dem Tag angemessene Gutenachtgeschichte erzählen. Ihre Schwiegermutter und Katharina Rosentreter baten, sich anschließen zu dürfen. Die Männer nutzten die Gelegenheit, im Herrenzimmer ein wenig zu plaudern.
»Dieses Pessach …« Jason Silberstein lehnte sich weit im Sessel zurück. »Hat das denn sein müssen damals? Wir hätten schön in Ägypten bleiben und da unseren eigenen Staat errichten sollen – Wüste gibt es ja genug dort. Dann hätte keiner in die