Monatelang war es an diesem Platz gewesen, und wann immer er im Sommer eine Jacke anziehen musste, hatte er nachgefühlt, ob es noch da sei. Aber nie hatte er es aus der Tasche genommen und aufgeschlagen.
Henry brachte die Jacke in den Keller und setzte sich ins Wohnzimmer.
»Der Clown: Der, den der Hund beißt. Nummern und Bilder aus hundert Jahren«, las Henry und drehte das blaue Buch in seinen Händen.
Es war kein Zufall, dass er es gekauft hatte. Als Kind hatte er ein ähnliches besessen, ein Bilderbuch über einen Clown. Jemand hatte es ihm zum sechsten Geburtstag geschenkt. Nicht die Eltern natürlich. Es war ein verbotenes Buch, eins aus dem Westen.
Er zögerte. Immer noch hatte er Hemmungen, die Seiten aufzuschlagen. So, als könnte ein Buch sein gesamtes Leben verändern, alles auf den Kopf stellen. Ein solches Buch musste man sich aufsparen wie Münzen oder Murmeln oder wie … Lachsschinken oder … ach, was weiß ich, dachte er.
Endlich fing er an zu blättern.
Der Clown saß vor einem Bühnenvorhang, seine Augen verträumt an den Zelthimmel gerichtet. Er war von kleiner Statur, auf den Kopf hatte er sich die Glatze mit einem krausen Haarkranz gezwängt, die Backen waren bemalt, und er trug eine farbige, eckige Pappnase. In den Händen hielt er ein riesiges Instrument, in das er hingebungsvoll blies. Es war eine Art schmale, lange Tuba. Ein Susafon, vielleicht, dachte Henry. Während er blies, warf der Clown dem Fotografen einen verschmitzten Blick zu. Die Augen lächelten.
Henry betrachtete das Foto lange, ließ das Buch sinken und sah in den Garten. Seltsam. Dieser Clown sah aus wie der aus dem Kinderbuch, der ihn damals bis in seine Träume verfolgt hatte.
Er schloss die Augen. Da war das Bild eines Wagens. Ein alter, schäbiger Zirkuswagen, zwei kleine, zwei große Räder, der schwarze Schornstein, ein eher schmales Ofenrohr, das sich durch das Dach bohrte, vorne ein Sitz für den Kutscher. Mit diesem Gefährt kam niemand schnell voran, man zockelte die Landstraße entlang und hatte alles bei sich, was man besaß. Innen gab es Pritschen zum Schlafen, an der Schmalseite übereinandergebaut, einen Tisch, drei Stühle und einen Ofen. An den Fenstern standen kleine Blumentöpfe. Ein solcher Zigeunerwagen mit Blumentöpfchen an den Fenstern wirkte wie die Plastehäuschen seiner Modelleisenbahn. Gemalte Blumentöpfe auf Fensterplaste.
Mit einem solchen wackligen Gefährt war der spanische Artist, um den es in dem Kinderbuch ging, mit seiner Familie durch die Lande gezogen. Bilder aus dem Buch kamen vor Henrys innerem Auge hoch, sie zeigten die Kindheit und vor allem die Arbeit der Artistenkinder.
Auf einem sah man eine riesige rote Tulpe in geschlossenem Zustand, auf dem nächsten Bild hatte sie sich geöffnet. Der Artist jonglierte die Tulpe, in der sich sein zweijähriger Sohn befand. Gegen Ende der Nummer öffnete der Kleine die Tulpe von innen und winkte mit seinen Fähnchen.
Die zweite Serie Bilder zeigte den kleinen Jungen mit bloßem Oberkörper und weiten Shorts, nur durch einen Gürtel in der Hüfte gehalten, genau wie damals die Gewichtheber im Zirkus. Der schmächtige Dreikäsehoch ließ seine Muskeln spielen, er wies auf seinen Bizeps unter dem Hemd, das an dieser Stelle offensichtlich ausgepolstert war wie ein Schalenbüstenhalter. Neben dem Kleinen lagen mächtige Eisenkugeln, mit schwarzen Ziffern beschriftet: 1000 Kilogramm, 2000 Kilogramm. Mit einer Grimasse und mit Gesten seiner Arme demonstrierte der Junge seine Konzentration und auch Angst und Respekt vor den schweren Gewichten.
Im nächsten Bild hob er eines der Gewichte vorsichtig auf, sein Bizeps schwoll, im dritten Bild hielt er die Hantel fast bis in Augenhöhe. Im vierten dann konnte man sehen, dass das Gewicht aus Pappe bestand. Der kleine Artist hielt es locker mit einem Finger und ließ es dann auf den Boden plumpsen. Die Zuschauer, hinter ihm im Bild, bogen sich vor Lachen.
Damals hatte Henry vorgehabt, es ihm gleichzutun, eine Hantel aus Pappe herzustellen und alle mit seinen Künsten als Gewichtheber zu beeindrucken. Er lächelte, als er daran dachte.
Als Clown wird man geboren, dachte Henry, und wenn man einer ist, hat man auch die Verpflichtung, einer zu sein. Er ließ das Buch sinken und schaute aus dem Fenster.
Der Clown aus seinem Bilderbuch war eigentlich ein Artist, ein fantastischer Turner gewesen. Aber nachdem er einmal einen komischen Auftritt hatte, wollte man ihn nie mehr ausschließlich als Artisten sehen. Immer musste er der Clown sein. »Aber erst das Publikum macht dich zum Clown«, sagte Henry halblaut und blätterte zur Einführung zurück.
»Der Clown ist klug und lebhaft, anmutig und schamlos, vielseitig und einfallsreich, mitleidig und schadenfroh. Er beobachtet scharf und reagiert unerwartet. Er zeigt spontan, wie ihm zumute ist. Ein Clown wird wieder das Kind, das er mal war. Er kehrt zurück zu den extremen Reaktionen der Kinder, Lachen und Weinen, Freudenschreie und Schmerzenslaute.
Wie ein Kind scheitert der Clown. Während alle bemüht sind, das Scheitern zu verbergen, obwohl es jeden Tag jedem zustößt, ob im Kleinen oder im Großen, scheitert der Clown bei allem, was er tut. Er führt dieses Scheitern vor. Die Zuschauer lachen über ihn und über sich selbst. Einer, der stellvertretend und schöner scheitert als sie, das ist der Clown.
Ein Clown erzählt eine Geschichte. Er ist ein Dichter, der seinen Blick auf die Welt vorführt. Niemals lernt der Clown aus dem, was er auf der Bühne erlebt. Immer wird er auf seiner Überzeugung beharren und ohne Selbstkritik weiterkämpfen. Dabei wird er kleine Siege erringen und am Ende doch verlieren. Der Clown öffnet sich, zeigt seinen Schmerz, drückt ihn mit dem Gesicht und dem Körper aus. Er behält die Qual, das Leiden nicht für sich. Das Publikum, das seinen eigenen Schmerz verbirgt, erlebt den Schmerz des Clowns. Manchmal lacht es und stutzt dann, weil es über das Leid und vielleicht über seinen eigenen Tod gelacht hat.
Aus Tragik wird Komik. Als Spötter überschreitet der Clown die Grenzen der Moral, die Tabus und stellt sich den menschlichen Schwächen.
Letzten Endes ist der Clown eine Symbolfigur der Gesellschaft: Er ist der Letzte, der, den der Hund beißt.«
Ja, dachte Henry. Genau so ist es. Er ist der Letzte, der, den der Hund beißt.
Er blieb nachdenklich in seinem Sessel sitzen. Als Kind hatte ihn am meisten die Vorstellung beschäftigt, herumzuziehen und niemals irgendwo zu bleiben. Alles, was man besaß, dabei zu haben und jede Woche an einem anderen Ort zu Hause zu sein, die Welt ständig neu, aus einem anderen Blickwinkel zu erleben. Für diesen Traum habe ich in dem richtigen Staat gelebt, dachte er jetzt, ausgerechnet hinter einer Zonengrenze. Aber zurückgehalten haben die mich nicht. Er drehte das Buch in den Händen.
Es hatte ihn an etwas erinnert, das erst ein paar Jahre zurücklag. Henry fing an, die Schubladen von Mutters Wohnzimmerschrank aufzuziehen.
5
Als er bei Hella und Bernd klingelte, hielt er ein Foto in der Hand.
Eine halbe Stunde hatte Henry auf das Bild gestarrt, bevor er den Entschluss gefasst hatte, es Hella zu zeigen.
Es ist wichtig, dass jemand es sieht, dachte er. Dieses Bild braucht einen Zeugen und zwar sofort. Sie lächelte, als sie ihn vor der Tür stehen sah.
»Komm doch rein«, sie ging ihm voraus durch den kühlen, weiß gefliesten Flur, die Zipfel ihrer Bluse flatterten um ihre Beine.
Ihr Wohnzimmer war so hell möbliert, dass es blendete, wenn man durch die Glastür trat. Mutters Wohnzimmer schien einen ganz anderen Zuschnitt zu haben, obwohl es an der gleichen Stelle in der identischen Hälfte des Doppelhauses lag. Das liegt an den dunklen Ecken bei uns, dachte Henry. Unser Zimmer ist so unübersichtlich, dass sich nie eine Gesamtsicht des Raumes bietet. Was natürlich auch seine Vorteile hat. Aber aufgeräumt ist es immer, dachte er, dafür