Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christiane Höhmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Секс и семейная психология
Год издания: 0
isbn: 9783865066060
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Boden hart, die Knochen darunter kalt.

      Die Mutti ist tot, dachte er, sie ist tot. Er stieß die Schaufel kräftig in den Boden und versuchte, sie zu drehen. Vergeblich. Es hatte schon Bodenfrost gegeben, die Narzissenzwiebeln musste er im Frühjahr setzen.

      Auf den Stiel gestützt, betrachtete er den Stein, dann die Kastanienbäume. Diese Bäume mochte er, das musste er zugeben. Immer demonstrierten sie, dass sie noch lebten. Im Sommer, indem sie Früchte trugen, die sie später auf die Passanten warfen oder auf den Boden knallen ließen, den ganzen Winter lang durch dicke Knospen, die selbst der größten Kälte trotzten.

      Auch Mutter hatte Bäume geliebt.

      Im letzten Jahr wollte sie immer wieder fotografieren. Es fing mit den Bäumen an. Die Pappeln, die die Straße säumten, dann die Kinder, die jeden Tag an ihrem Fenster vorbeigingen, die Vögel, deren Rufe sie nachahmte. Sie verlangte nach der Kamera, dieser Billigkamera, die sie behielt, weil Wilhelm sie ihr geschenkt hatte. »Eine Bessere lohnt sich ja für mich nicht mehr«, sagte sie manchmal. Henry war froh, dass sie damit zufrieden war, ihre Umgebung zu knipsen.

      Manchmal, zu der Zeit, als sie noch herumlaufen konnte, wartete er besorgt auf die Worte: »Lass uns nach Coswig fahren. Du hast doch ein Auto. Wir könnten doch an die Elbe, einmal noch nach Meißen. In die Heimat.« Er legte sich viele Worte zurecht, um zu verhindern, dass er sie dorthin fahren musste.

      Es ist besser, man kehrt nicht an einen Ort zurück, der einem so viel bedeutet, dass man verloren ist für den Platz, an dem man lebt, dachte er. An dieser Formulierung hatte er lange gefeilt.

      Er hatte Mutter nach der Wende sofort in den Westen geholt, in seine Nähe. Und dann suchte er dieses Haus für sie. Aber hier war sie immer fremd geblieben. Wie eine Touristin, die die Gegend am liebsten durch die Linse ihres Fotoapparates betrachtet.

      Einmal konnte er die Kamera nicht schnell genug aus dem Schrank holen, er stand in der Küche am Herd und rührte Zwiebeln in Butter.

      »Gleich, Mutter«, sagte er, »gleich nach dem Essen gebe ich dir die Kamera.«

      »Nein, jetzt brauche ich sie, bitte, ich muss sie haben.«

      »Aber warum denn jetzt gleich? Du hast doch so viel Zeit, die Bäume zu knipsen.«

      »So viel Zeit?«, fragte sie, »so viel Zeit?«

      Kurz darauf musste er sie ins Krankenhaus bringen lassen, weil sie nichts mehr zu sich nahm. Eine ganze Nacht lang spuckte sie schwarze, übel riechende Flüssigkeit in die Toilettenschüssel. Henry zögerte. Würden sich die Beschwerden nicht vielleicht doch wieder legen, ohne dass er ihr das Krankenhaus zumuten musste?

      Sie sagte nicht, dass sie Schmerzen hätte, hob nur immer wieder den Kopf über der Toilette und schaute ihn geistesabwesend und verstört an, mit diesen fast blinden Augen.

      Als er endlich gegen Morgen telefonierte und einen Rettungswagen bestellte, hörte er die Mutter ins Wohnzimmer gehen, Schränke öffnen und mit einem lauten Knall wieder schließen.

      Mutter zog Tischtücher heraus, die sie schon lange nicht mehr benutzt hatte, und breitete sie über alle Tische im Haus.

      In den nächsten Tagen ging Henry dann an den Tischen und Tischchen vorbei, alle mit sorgfältig gestärkten Tüchern bedeckt wie für eine große Feier, es dauerte Wochen, bevor er die Decken wieder einsammeln und in die Waschmaschine stecken konnte. Nachdem sie alle Tücher verteilt hatte, drückte sich Mutter in die hinterste Ecke des Wohnzimmers, mit starren, weit aufgerissenen Augen sah sie den Sanitätern entgegen. Wie ein Tier, dachte Henry, ein gejagtes Tier.

      Er lehnte den Spaten an die Holzbank und setzte sich. Ihm war ein wenig übel im Magen, bestimmt übersäuert, dachte er, und dann fiel ihm auf, dass seit Langem kein Tag mehr vergangen war, an dem er nicht an sie dachte, an dem sie nicht immerzu da war in seinen Gedanken.

      Näher als alle Lebenden ist die Mutti mir, dachte er. Und es ist so ärgerlich, dass sie das hier alles nicht sehen kann.

      Er legte den Kopf in den Nacken. Die kleinen Knospen an den Kastanienbäumen, die erschienen waren, nachdem die letzten Blätter abfielen, würden noch lange brauchen, bis sie sichtbar größer wurden und plötzlich aufplatzten, aber dann würde alles schnell gehen.

      Beim nächsten Blick wären schon die Blütenstände zu sehen und nicht lange danach würde ihm der Duft der Kastanien am Eingang des Friedhofs entgegenströmen.

      »Wo sind eigentlich die Pappelbilder?«, fragte Henry jetzt laut und eine schwarz gekleidete Frau in der übernächsten Gräberreihe warf ihm einen erschreckten Blick zu. Er hob die Hand und winkte ihr beruhigend zu, bevor er umständlich aufstand, nach dem Spaten griff und dem Rechteck mit dem schwarzen Marmorstein den Rücken kehrte.

      »Hast du Backpulver da?«, Hella Schulze stand in der Tür, Bernds Frau, daneben der Hund namens Daisy, der unruhige Kreise um sie zog. Henry hatte aus dem Fenster geguckt und sich die Haare gekämmt, als er das Klingeln hörte.

      An manchen Tagen zog er sich jetzt erst spät an, Hosen und Jacken aus Sweatshirtstoff, das ersparte ihm das Bügeln.

      Diese Trainingsanzüge allerdings waren ein Abstieg, dachte er. Nicht einmal in der Zeit, als er noch den Wodka trank, hatte er sich ein unkorrektes Aussehen durchgehen lassen. Jedenfalls nicht tagsüber.

      »Backpulver? Ja«, er ging zerstreut in die Küche. Hella blieb vor der Türe stehen und rührte sich nicht, bis er wiederkam.

      »Ich habe gar kein Backpulver, ich backe ja nicht.«

      Sein Ton war schroffer als beabsichtigt. Als er ihren Blick auffing, legte er den Kopf schief und grinste versöhnlich.

      »Ist was mit dir?«, fragte sie.

      »Was soll sein?«, er stellte den Kopf wieder gerade und musterte sie.

      Sie sah so aus wie immer, wenn sie zur Arbeit ging. Eine dunkle Hose und ein T-Shirt unter einer Steppweste, die wohl die kräftigen Oberschenkel kaschieren sollte.

      Damals bei dieser Tanzveranstaltung im Stadtteilpark trug sie ein Kleid in einem dunklen Blauton, in der Taille eng, der Rock locker und bis zum Knie.

      Bernds Hella kleidet sich wie Mutter, hatte er gedacht. Nein, nicht wie Mutter. Wie Mutter früher. Sie hatte Ähnlichkeit mit der Frau, der er als Kind hinterhergesehen hatte, wenn sie sich durch den Flur zur Haustür bewegte und ihr Parfüm für kurze Zeit im Raum zurückblieb.

      »Ach, Henry«, Hella bewegte plötzlich den Arm und er befürchtete schon, dass der bei ihm ankommen und auf seinem Arm landen würde. Aber nein, der Arm beschrieb eine Kurve und die Hand landete auf ihrem Bauch unter der Weste, als müsse sie irgendwo untergebracht werden.

      Hella redete weiter, als ob sie selbst nicht wüsste, welchen Anblick sie nun bot.

      »Unser Hund, die Daisy«, sie fing an, mit der anderen Hand im weißen Fell des Hundes herumzuwühlen, »könntest du vielleicht mal mit ihr rausgehen, ich meine, sie ist so oft alleine, weil ich doch Schichtdienst habe im Krankenhaus und …«

      Nein, dachte Henry. Was soll das werden? Beschäftigungstherapie für den trauernden Hinterbliebenen?

      »Ich bin allergisch gegen Hunde, weißt du, du Gute«, sagte er, bewegte den Blick von Hella zu Daisy und fing an, sich den Ellenbogen zu kratzen. Hella beugte sich zu dem weißen Zottelfell hinunter und sprach auf den Hund ein, als habe Henrys Bemerkung ihm tiefe Verletzungen zugefügt, streichelte ihn, nickte ihm zu, die Weste ging auf, der Stoff ihrer Bluse, auf dem gerade noch ihre Hand gelegen hatte, spannte. Henry wandte seinen Blick wieder ab und klopfte rhythmisch auf den Türrahmen.

      »Danke«, sagte Hella und drehte sich um.

      Henry schloss die Tür und ging in die Küche. Das Basilikum auf der Fensterbank sah so schlaff aus wie nach einer Dürreperiode mit nachfolgendem Sturzregen.

      Er warf den Topf in den Mülleimer.

      Heute würde er kochen, und zwar