Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christiane Höhmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Секс и семейная психология
Год издания: 0
isbn: 9783865066060
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wieder einen Wodka auf Eis, der machte das Leben schöner. Aber niemals vor fünf Uhr.

      Eines Abends, nach dem zweiten Wodka, sagte Mutter zu Henry, dass er nicht gut rieche. »Wodka riecht doch gar nicht«, sagte er, aber er kaufte keine neue Flasche mehr.

      Nach dem Starbucks ging er ins Internetcafé. Das letzte seiner Art in dieser Stadt befand sich in der Bahnhofstraße. Anscheinend war er einer der wenigen Einwohner dieser Stadt, die noch keinen Internetanschluss hatten und trotzdem online gingen. Murats Landsmänner benutzten das Café auch zum Telefonieren.

      Murat winkte ihm am Eingang zu, ohne seine Zigarette hinzulegen, er schaltete wie immer die Nummer 1 frei.

      Henry ging durch den dämmrigen Laden und setzte sich auf den Drehschemel vor dem Computer.

      Links neben ihm standen Menschen verschiedener Nationalitäten in kleinen Telefonabteilen, rechts saßen Einzelne mit gesenkten Köpfen vor den Bildschirmen. Hier hatte noch niemand etwas vom Rauchverbot gehört, überall qualmte es.

      »Billig telefonieren, rund um die Welt«, hatte Murat mit ungelenker Schrift quer über das Schaufenster geschrieben. Neben Henry mischten sich Stimmen, leises Murmeln, das immer wieder übertönt wurde durch heftige Laute, die jemand in seinen Hörer rief, in einer Sprache, die Henry nicht kannte.

      Wenn er in sein Mailprogramm gegangen war, oft nur, um festzustellen, dass er nur Werbepost erhalten hatte, genehmigte er sich den Besuch auf ein paar schönen Seiten, darunter nur selten solche, die er sofort schließen musste, wenn Murat hinter ihn trat, »mein Freund« sagte und ihm auf den Rücken klopfte.

      Am Ende ging er auf die Seite Google Earth. Mit wenigen Mausklicks bewegte er sich in seiner Heimat die Straßen entlang, die er als Junge gegangen war, über dem Elternhaus hielt er für eine längere Zeit an, dann über dem Nachbarhaus. Manchmal fuhr er auch mit dem Zeiger der Maus nach Meißen oder Dresden, oft blieb er einfach an einer der Brücken an der Elbe stehen. Eine Stadt muss einen Fluss, ein Ufer, eine Uferpromenade haben. Erst der Fluss gibt der Stadt ihr Gesicht.

      Wenn er von diesen Reisen zurückkehrte, wusste er sekundenlang nicht mehr, wo er war und was er in dem verrauchten, überfüllten Raum tat, wo von kleinen Tischen hinter grauen Maschinen Menschen mit dunklen Augen den Blick vom Bildschirm hoben und ihn ansahen, wenn er plötzlich aufstand.

      Die Zeitung las er nach dem Frühstück von Anfang bis Ende durch, selbst, wenn ihn die Nachrichten und Berichte anödeten. Es reichte, die Artikelüberschriften von einem Tag zu lesen, um im Sessel zur Seite zu kippen, fand er, während er blätterte und dabei vor sich hin murmelte.

       Startschuss für die Lesehasen

       Licht von allen Seiten

       Ein Tag für alle Kinder

       So geht Sudoku

       Einkaufen wie an der Wolga

       Altersversorgung kommt teuer

       CDU-Stil gescheitert

       Mit Liste und Dose von Haus zu Haus

       Tresorknacker unterwegs

       Kinder erleben den Wald

       Upps, komm Zähne putzen

       Wir trauern um …

      Hier stutzte er. Ein Name sprang ihm ins Gesicht. Fett gedruckte Zeilen wurden löchrig und verschwammen vor seinen Augen.

      Günter Fiedler, stand da. 1949–2008. Günter Fiedler? Ja, das kam hin. Günter war der Nachbar von gegenüber. Früher war er oft stehen geblieben, bevor er in sein Auto stieg, um zum Dienst zu fahren. Er hatte sich an den Gartenzaun gelehnt, herübergegrüßt und manchmal mit der Mutter am Fenster ein Gespräch begonnen. Abends hatte Henry auch mal neben ihm am Tresen im Willi’s gestanden. Und war das nicht erst zwei Wochen her, dass Henry Günter im Supermarkt gesehen hatte?

      Er dachte an den Blick, den der ihm im Eingangsbereich des Geschäfts zugeworfen hatte, als er ihn erkannte. Ein merkwürdiger Blick, unter dem sich Henry über die Haare strich. Er war doch gekämmt, das Hemd steckte in der Hose, die Hose hatte keine Flecken? Früher hatten ihm andere Blicke zugeworfen, eklige, geile Typen, die ihm auch schon mal in der Straßenbahn über den Rücken strichen und zwischen die Beine fassten. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihm dämmerte, dass sie ihn für »andersherum« hielten. Ekelhaft, dachte Henry. Seitdem konnte er es nicht mehr gut aushalten, wenn er angestarrt wurde.

       »Nach langer Krankheit.«

      Günters Blässe war also kein Zufall gewesen. Und jetzt war er tot. Keine Abschiede, dachte Henry, keine Abschiede. Einfach so davongehen. Über die Mauer springen. So ist es richtig, so würde er es auch machen. Plötzlich spürte er wieder seinen Magen. Er hielt die Hand dagegen. Heute würde er nichts essen. Auch kein Müsli zum Frühstück und keine Gemüsesuppe zu Mittag. Ein Fastentag.

      Als er im Keller die Wäsche in die Maschine stopfte, klingelte das Telefon. Er fluchte leise, ließ die Wäschestücke fallen und lief die Treppe hoch. Der Hörer war nicht an seinem Platz auf dem kleinen Tischchen im Wohnzimmer. Wo hatte er ihn hingelegt? Das dringender werdende Geräusch führte in Mutters Zimmer, zu ihrer Frisierkommode. Das Klingeln hörte auf. Auf dem Weg in die Waschküche setzte es wieder ein, Henry zog den Hörer vorsichtig aus seiner Hosentasche.

      »Hallo?«, sagte er keuchend, »hallo?«

      »Oh, ist da Brosche? Heinrich Brosche?«

      »Ja«, sagte Henry, »und wer zum Teufel sind Sie?«

      »Tobias Grün«, war die Antwort, »gut, dass ich Sie erreiche, wir machen eine Meinungsumfrage. Sie kennen doch sicher die Sender ARD und ZDF und auch RTL? Günter Jauch?«

      Der Lautsprecher am Gerät war angestellt, die Stimme so durchdringend, dass Henry den Hörer vom Ohr abhalten musste.

      »Hören Sie«, sagte Henry gefährlich ruhig, »Sie wissen doch, dass Werbeanrufe verboten sind?«

      Der Mann machte keine Pause, er schnappte nicht nach Luft und zögerte keinen Moment, wie sie es manchmal taten, die vermeintlichen Meinungsforscher aus den Callcentern, wenn Henry seine Frage stellte.

      »Sicher weiß ich, dass Werbeanrufe verboten sind«, Tobias Grüns Stimme hallte im Waschkeller wider, »aber was soll ich denn machen, es ist doch mein Job!«

      »Such dir was Legales, mein Guter«, sagte Henry und drückte auf den Ausknopf.

      Drei bis fünf Werbeanrufe in der Woche, dazu ein heiß gelaufenes Faxgerät, das immer wieder die gleiche Werbung ausspuckte. Zettel mit Tannenbäumen darauf, jeweils zwei Tannenbäume in einer Reihe nebeneinander. Man wusste nicht einmal, wofür da geworben wurde. Ein Jagdgrundstück zu vermieten? Abtransport alter Weihnachtsbäume? Gartengestaltung?

      Und dann das Türklingeln.

      Mindestens an jedem vierten Tag klingelte es und es standen Leute vor der Tür. Zeugen Jehovas, dann Bundeswehrsoldaten, die für Erhaltung und Neugestaltung von Kriegsgräbern sammelten, und der Zeitschriftenwerber, der angeblich nur deshalb Zeitschriftenabonnements verkaufte, weil er mit dem Erlös obdachlose Jugendliche unterstützen wollte.

      »Haben auch Sie ein Herz für unsere jungen Menschen!« Mehr noch als diese Anrufe und die Besuche an der Tür fürchtete Henry die Zeit, wenn er die Anrufe nicht mehr sofort beenden, und die Besucher nicht schon an der Schwelle fertigmachen würde. Wenn es so weit käme, dass er Zeitschriftenwerber und religiöse Extremisten ins Haus bitten würde oder einen Anruf von einem vermeintlichen Meinungsforschungsinstitut annehmen und sich mit den Werbern unterhalten, vielleicht sogar streiten würde.

      Wenn sich das Mädchen im Starbucks nicht mehr zu ihm umdrehen und lächeln würde, wenn er einen seiner Sprüche losließ. Oder wenn Murat sein schmuddeliges Internetcafé schließen und nach Izmir zurückgehen