Das Unbehagen, das Homosexualität in vielen religiösen Menschen hervorruft, hat eine erstaunliche Macht über sie. Es wird niemanden überraschen, dass in Israel, dem Zentrum der drei abrahamitischen Religionen, interreligiöse Gefälligkeiten nicht gerade an der Tagesordnung sind. In Jerusalem gehen religiöse Christen, Muslime und Juden auf der Straße aneinander vorbei, ohne dass ein Kontakt zwischen ihnen stattfindet, von einem konstruktiven Gespräch ganz zu schweigen. Doch vor einigen Jahren gelang es Vertretern der jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubensgemeinschaft sich zu verständigen, darauf nämlich, dass es in den Straßen Jerusalems keine Gay-Pride-Parade geben darf. Die säkulare Gesellschaft, zu der wir gehören, ist sich des intensiven religiösen Widerstands gegen Homosexualität bewusst. Er beeinflusst uns alle. Innerhalb der Gesellschaft als Ganzes hat es in den letzten Jahren enorme Fortschritte gegeben. Immer mehr Menschen begreifen, dass es keine Sünde ist, homosexuell zu sein; dass Homosexualität (wie in der Erzählung von der Stadt Sodom) genauso wenig mit Verdorbenheit in Verbindung gebracht werden darf wie Heterosexualität. Nichtsdestoweniger bestehen das hergebrachte Misstrauen und die alte Feindschaft weiter fort.
Homosexuelle werden noch immer verleumdet und verurteilt und verfolgt. Wir müssen laut und deutlich aussprechen, dass wir glauben, die Bigotterie der Vergangenheit sollte eine Sache der Vergangenheit bleiben; dass wir glauben, andere Botschaften, die unsere religiöse Tradition ebenso betont, nämlich Botschaften des Respekts vor dem Anderen und der Liebe zum Anderen, müssten unangefochten an erster Stelle stehen. Wir alle, die sich Sorgen machen, welche Rolle die Religion in unserer Gesellschaft spielen soll, müssen mit offenen Karten spielen. Es ist nicht länger annehmbar zu sagen: „Es steht nun mal so in der Bibel. Es gibt nichts, was ich dagegen tun kann!“ Wir müssen es explizit aussprechen: Homosexualität ist keine Sünde. Wir können nicht herumlavieren, nicht wenn es um das Leben anständiger und ernsthafter Männer und Frauen geht. Es ist einfach eine Schande, Menschen weiterhin wegen eines unabänderlichen Aspekts ihrer Persönlichkeit zu verdammen, dem kein moralischer Makel anhaftet.“
Dessen ungeachtet ist Israel mit Abstand das LGBT-freundlichste und fortschrittlichste Land im Nahen Osten (LGBT ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender), wo Schwule und Lesben ungehindert jeden Posten im öffentlichen Leben bekleiden können. Bedauerlicherweise ist jedoch der gut acht Millionen Einwohner zählende Staat, der gerade einmal so groß ist wie Hessen, wegen seiner Politik gegenüber Palästinensern auch in der LGBT-Szene umstritten. Zuletzt gab es in der LGBT-Gruppe der Linkspartei einen Streit, weil Parteimitglieder mit Antisemiten und Homo-Hassern gemeinsam gegen die Politik Israels protestiert hatten.
Israel kokettiert mit dem Image einer liberalen und weltoffenen Gesellschaft. In einer Region, in der Frauen gesteinigt, Schwule aufgehängt und Christen verfolgt werden, genießt die Homosexuellencommunity mehr politische Freiheit als in jedem anderen Nahoststaat, Schwule und Lesben verstoßen mit ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe nicht mehr gegen die Gesetze des Landes. Die Adoption der Kinder von Partner oder Partnerin ist wie die Anerkennung der im Ausland geschlossenen Ehen fast schon Routine, und zahlreiche Lesben erfüllen sich ihren Kinderwunsch mit Spendersamen, denn mit künstlicher Befruchtung haben Israelis kaum Probleme. Israel ist somit progressiver als mancher europäische Staat. Was die Gesetze für Paare gleichen Geschlechts betrifft, dürfen sie in Israel selbst nur eine Art Ehevertrag schließen, der sie gesetzlich mit verheirateten Paaren beinahe gleichstellt. Es ist allerdings nicht möglich zu heiraten, da keine Zivilehe angeboten wird, sondern Eheschließungen nur von Religionsgemeinschaften durchgeführt werden dürfen. Heterosexuelle Paare mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit oder Nichtgläubige können ebenfalls nur im Ausland heiraten. Dabei ist das nahegelegene Zypern besonders beliebt für den Ehetourismus. Es gibt im Land derzeit eine Debatte über die Einführung einer Zivilehe, die sowohl Hetero- als auch Homosexuellen geöffnet sein soll.
Viele Schwule und Lesben in Israel wollen Kinder. Von einem regelrechten „Gayby-Boom“ ist die Rede. Viele Männer nehmen Leihmütter im Ausland in Anspruch – etwa in Indien. Doch die Leihmutterschaft im Ausland wirft religionsgesetzliche Probleme auf. Erstens ist es noch nicht erlaubt, das Kind von einer anderen Mutter austragen zu lassen und zweitens ist ein Kind aus dem Bauch einer Nicht-Jüdin für die Rabbiner nicht jüdisch.
Israel hat weltweit einen liberalen Ruf im Hinblick auf die Rechte und die Lebensqualität von Homosexuellen. Verschiedene Organisationen werben dafür, dass Israelis beides leben können: ihren Glauben und ihre sexuelle Orientierung. Israel ist ein liberales Land, in dem gleichgeschlechtliche Partnerschaften oft selbstverständlicher gelebt werden als in vielen anderen westlichen Staaten. Tel Aviv preist sich als globale Gay-Metropole an, wenn auch das Thema, zumindest in religiösen Kreisen, ein Tabu bleibt.
Neben der liberalen Gesetzgebung ist dafür vor allem der Status von Tel Aviv als die „Schwulenhauptstadt des Nahen Ostens” verantwortlich, obwohl die Stadt in der arabischen Welt als Sinnbild des verhassten zionistischen Judenstaats gilt. Wohl in keinem Land liegen die Pole im Umgang mit Homosexualität so weit auseinander wie in Israel. Während Gay Pride in Tel Aviv Teil des Tourismusmarketing ist, gibt es bei der Veranstaltung in Jerusalem regelmäßig Proteste und massiven Polizeischutz. In Tel Aviv hat jede Gruppe ihren eigenen Club, ihre eigene Party. Hier geht’s um die Mischung: es kommen Palästinenser, orthodoxe und säkulare Juden, Schwule, Lesben und transsexuelle Frauen und Männer.
Und ausgerechnet hier, sechzig Kilometer vom konservativen Jerusalem entfernt, mitten in einer Region, die für ihren anhaltenden Konflikt bekannt ist, zieht es jedes Jahr Schwule und Lesben aus aller Welt nach Tel Aviv zum Gay Pride. Doch Tel Aviv ist nicht Israel, wie New York nicht Amerika ist. Tel Aviv ist ein eigenes Land, hat drei Dinge, die Homosexuelle anzieht: ein lebendiges Nachtleben (wenn es dunkel wird, tobt der ungestüme Hedonismus), den Strand und schöne Menschen. Es gilt das Schönheitsideal von Städten, die am Meer liegen. Wie in Rio oder Los Angeles zählen Waschbrettbauch und Brustmuskeln. Aber entfernt man sich mal vom Tel Aviver Strand, nimmt die Toleranz schnell ab.
Im Gazastreifen und in den palästinensischen Autonomiegebieten der Westbank sind Homosexuelle, die sich als solche zu erkennen geben oder entdeckt werden, Drohungen und Folter ausgesetzt, nicht nur durch die örtlichen Sicherheitskräfte und Milizen, sondern besonders auch durch Familienangehörige. Was die Hilfesuchenden zu Protokoll geben, sind Zeugnisse der desolaten Menschenrechtssituation in der palästinensischen Gesellschaft. Werden Homosexuelle einmal entdeckt, werden sie sozial geächtet. Im schlimmsten Fall erfahren sie Erniedrigungen und physische Gewalt. In der palästinensischen Gesellschaft wird Gewalt gegen Schwule als gerechtfertigt angesehen. Häufig werden Homosexuelle als Verräter gegen den Befreiungskampf der Palästinenser gebrandmarkt, als „Kollaborateure mit den Juden“, oder als „Agenten des Mossad“ (israelischer Auslandsgeheimdienst). Selbst in der eigenen Familie sind Homosexuelle dann nicht mehr sicher: Morddrohungen und Erpressungen durch Brüder und Väter machen ein sicheres Leben in den oft kleinräumigen Gemeinschaften unmöglich. Die weitläufigen familiären Bande schützen die Opfer auch in größeren