Sjoerd Gaastra 1921-2013. Detlef Gaastra. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Detlef Gaastra
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783960083177
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war mein Vater so gut wie nicht abzubringen, auch wenn abzusehen war, dass sie nicht richtig waren. Das Problem war nur, wie er sich Fräulein Tiemann nähern könne, die als eine der schönsten weiblichen Angestellten galt.

      Auf dem Schreibtisch von Fräulein Tiemann stand eine der wenigen Addiermaschinen, und er nutze jede sich bietende Gelegenheit dort ein paar Zahlen zusammen zu rechnen. Der Leiter der Exportabteilung Dr. Geks erwischte ihn mal mit einem Zettel, auf dem 3 Zahlen zum Addieren standen und hat ihn dann „zusammen geschissen“ (Originalzitat meines Vaters). Dazu muss man aber wissen, dass mein Vater zeitlebens ein ausgezeichneter Kopfrechner war. Ich will hier mal eine Szene schildern, die ihn bei einem Restaurantbesuch in höchstes Verzücken versetzte:

      V: „Herr Ober, bitte die Rechnung!“

      O: „Moment der Herr (nimmt einen Zettel und rechnet murmelnd zusammen) 27 Mark 30 der Herr.“

      V: Kurzer stirnrunzelnder Blick auf den Zettel, Kopfschütteln „Stimmt nicht.“

      O: Halblaut nachrechnend „Entschuldigung, 26 Mark 30.

      V: „Stimmt noch immer nicht!“

      O: Rechnet noch mal „Doch der Herr, das ist richtig“

      V: „Junger Mann, jetzt machen wir das mal zusammen.“ Endergebnis 28 Mark 30 Pfennig.“

      O: „Das ist ja 1 Mark mehr.“

      V: „Ja und? Ich habe doch nicht gesagt Sie hätten zu viel berechnet, ich habe doch nur gesagt, dass Ihre Rechnung nicht stimmt.“

      Mein Vater war höchst zufrieden, der Ober hatte sich sein Trinkgeld redlich verdient und dem Sohn und Ehefrau wurde mal wieder die väterliche Rechenkunst und Überlegenheit demonstriert.

      Anlässlich des 25-jährigen Betriebsjubiläums rief mich Herr Frank, der Leiter der Buchhaltung an um zu erfragen, womit die leitenden Abgestellten ihrem Kollegen eine Freude machen könnten. Im Laufe des Gespräches sagte er mir: „Ihr Vater ist der einzige Reisende im Haus, dessen Spesenabrechnung immer stimmt. Der bringt aus jedem Land auch die kleinste Münze zurück, egal ob Lire, Penny, Öre, Cent oder Centime, was nur Arbeit macht. Aber bei der nächsten Reise bekommt er das Kleinzeug wieder mit. Seine Spesenabrechnungen müsste ich gar nicht nachrechnen, aber ich mache es trotzdem, ich würde ihn zu gerne bei einem Fehler erwischen.“

      Ich glaube nicht, dass es ihm gelungen ist.

      Fräulein Tiemann war an dem jungen Lehrling in keiner Weise interessiert. Er war schließlich 5 Jahre jünger als sie, hatte kein nennenswertes Einkommen und auch keine beruflichen Perspektiven. Außerdem wohnte er in der nicht besonders beleumdeten Senner Siedlung, und nicht im Bielefelder Westen. Einziger Pluspunkt war vielleicht seine stets korrekte Kleidung. Die Situation wandelte sich mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges im September 1939. Im Laufe der immer größeren Verluste dämmerte es Fräulein Tiemann, dass ein Mann, der als Ausländer nicht zum Kriegsdienst einberufen werden konnte, der ohne körperliche Schäden, wenn auch ohne „Eisernes Kreuz“ den Krieg überstehen würde, doch nicht die schlechteste Aussicht wäre.

      Hier ist zu bedenken, dass mein Vater nicht freiwillig oder aus politischer Überzeugung ins Deutsche Reich kam. In den Niederlanden gab es einen anderen Blick auf Deutschland, nicht durch Propaganda vernebelt. Nur wenigen ist auch heute nicht bekannt, dass es Bestrebungen gab die Olympischen Spiele 1936 wegen der bereits bekannten Verfolgung politischer Gegner und Juden, kurzfristig nach Amsterdam zu verlegen. Die NS-Führungsriege wurde weltweit als lächerlich empfunden. Der in seinen Reden keifende Hitler, der Mussolini rhetorisch nicht das Wasser reichen konnte, der wie ein aufgeblasener Luftballon wirkende Göring, der hinkende, verwachsende Goebbels und schmächtige, glupschäugige Himmler wirkten jenseits der Reichsgrenzen nicht gerade als Lichtgestalten. Mit wachen Augen beobachtete mein Vater das Umfeld und entzog sich frühzeitig allen Versuchen einer politischen Vereinnahmung, besonders der Marine und der SS.

      Allem Soldatischem, mit Ausnahme von Marschmusik, stand er ablehnend gegenüber. Nie nahm er ein Gewehr oder eine sonstige Waffe in die Hand. Das lag in einem prägenden Erlebnis in frühester Jugend. Er hatte von seinem Vater im Alter von ca. 10 Jahren ein Luftgewehr geschenkt bekommen, das natürlich ausprobiert werden musste. Zuerst auf unbewegliche Ziele und dann auf Vögel. Nach diversen Fehlschüssen traf er doch noch einen Reisfinken. Er lief zu der Stelle, wo der Vogel zu Boden gestürzt war und fand ihn verletzt aber noch lebend vor. Der Reisfink verstarb in seinen Händen. Darauf lief er nach Hause, versteckte das Gewehr in der hintersten Ecke eines Schrankes und rührte nie wieder ein Gewehr an. Sicherlich spielte auch seine Berührung mit dem Hinduismus und der religiösen Behandlung aller Lebewesen, einschließlich Tieren eine Rolle. Dieses Erlebnis erzählte er mir, als ich wohl im gleichen Alter wie er war und ihn bat mit mir auf der Kirmes des Schützenfestes an einer Schießbude zu schießen. Er hat mich nie daran gehindert zu schießen, was ich auf der Kirmes immer gerne und auch erfolgreich getan habe, aber der Wunsch nach einen Luftgewehr kam bei mir nicht auf. Und ich hätte es sowieso nicht bekommen.

      Zu seiner Verteidigung brauchte er auch keine Waffe. Er war sehr reaktionsschnell und hatte enorme Kraft in seinen Händen. Besonders Frauen erinnern sich schmerzhaft seines freundschaftlichen Händedrucks. Es ist auch vorgekommen, dass er im Überschwang der Freundlichkeit Finger gebrochen, bzw. angebrochen hat. Grundsätzlich ging er allen Gefahren und Unannehmlichkeiten aus dem Wege und provozierte sie auch nicht.

      Als Niederländer konnte er in den wenigen Monaten des Friedens und bis zum völkerrechtswidrigem Überfall auf sein Heimatland 1940 noch ungehindert die ausländischen Sender auf seinem hochgerüsteten Radio empfangen und war dadurch auf die drohende Kriegsgefahr entsprechend vorbereitet. Nach dem für Deutschland siegreichem Polenfeldzug besuchte ein eingezogener Kollege Delius und wurde natürlich über die Ereignisse ausgefragt, man war begierig Informationen aus erster Hand zu bekommen. Mein Vater erzählte mir, dass die Auskünfte sehr vage waren, aber in dem Satz endeten: „Wenn wir für das, was da geschieht, zur Rechenschaft gezogen werden, dann wird uns kein Gott gnädig sein.“ Da dämmerte es meinem Vater, dass die aus dem Äther empfangenen Nachrichten keine Feindpropaganda waren. Er zog schon früh die Lehre, dass es lebenserhaltend sei, sich nicht zu äußern und sein Wissen mit anderen zu teilen.

      Es gab noch ein anderes prägendes Erlebnis. Ein Nachbar aus der Siedlung Senne II kommentierte im Beisein anderer Siedlungsbewohner eine auf Bielefeld fliegende Bomberstaffel mit den Worten: „Morgen steht dann wieder in der Zeitung, dass die englischen Verbrecher Bethel angegriffen und Heime beschädigt haben, aber von den Schäden und Toten in Bielefeld sagen die Lügner nichts.“ Der Nachbar wurde am nächsten Tag von der Polizei an seinem Arbeitsplatz zu einer „Befragung“ abgeholt. Nach zwei Tagen erhielt die Ehefrau die Nachricht, ihr Mann hätte sich an seinen Hosenträgern erhängt. Der einziger Kommentar der Ehefrau dazu: „Komisch, er hat noch nie in seinem Leben Hosenträger besessen.“

      Als wir wieder in Bielefeld wohnten haben wir nach einem Besuch am Grabe meines Großvaters auch das Erinnerungsmahl für die Opfer der NS-Diktatur auf dem Sennefriedhof besucht und mein Vater sagte zu meiner Mutter: „Sieh mal, das steht der XXX auch mit drauf, dann war er wohl doch kein Selbstmörder. Hast du neulich in der „Freien Presse“ gelesen, dass der Nachbar und vermutliche Denunziant einen Posten bei der Stadt hat und befördert wurde.“ Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, weil er das in einer ganz ungewohnten Tonlage sagte. Ich hatte immer eine sehr emotionale Bindung an beide Elternteile und bemerkte entsprechende Stimmungen. Dieses war so eine Situation. Jetzt bei der Niederschrift sind mir die beiden Namen nicht mehr bekannt, aber ich glaube, wenn ich vor dem Mahnmal stehe weiß ich wieder wer das Opfer war, der mutmaßliche Denunziant wird wohl (leider) unbekannt bleiben.

      Mein Vater fuhr immer mit der Eisenbahn von Kracks nach Bielefeld. Vom Bahnhof führte ihn der Weg zur Goldstraße immer über den Klosterplatz. Es war eine größere Menschenmenge mit kleinen Koffern und Handgepäck versammelt, die an ihrer Kleidung den gelben Stern trugen. Durch seine Informationen der Feindsender wusste er sofort, dass es eine Reise ohne Wiederkehr sein würde. Bei Delius wurde das Ereignis nicht weiter kommentiert. Aber es gab auch Kollegen, die über die „Umsiedlung der jüdischen