»Immer wenn die Grundsätze der Pflichterfüllung sich Lokkern oder erschlaffen und die Ungerechtigkeit überhand nimmt, dann ströme Ich hervor: um die Gerechten zu schützen und die Übeltäter zu vernichten, um die göttliche Weltordnung wieder einzusetzen, werde ich in jedem Weltalter zum vergänglichen Wesen inmitten der sterblichen Geschöpfe. «4
Ramakrischna, der große Heilige des neunzehnten Jahrhunderts, vergleicht die Avatare mit Wellen im unendlichen göttlichen Meer:
»Dem Geist und der Materie wohnt, vergleichbar einem Meer ohne Grenzen, eine unendliche Macht inne. Um einer besonderen Aufgabe willen nimmt diese unendliche Macht zu einer bestimmten historischen Zeit sozusagen konkrete Formen an - das ist, was man einen großen Menschen nennt. Er ist, genaugenommen, eine örtliche Manifestation der alles durchströmenden Macht, mit anderen Worten eine göttliche Inkarnation. Diese Größe in einem Menschen ist im eigentlichen eine Manifestation göttlicher Energie ... Der Avatar ist immer derselbe: Er stürzt sich in das Meer des Lebens, taucht an einem Ort auf und wird Krischna genannt, taucht wieder unter und erscheint am anderen Ort als Christus.« 5
Die Lehre vom Avatar, dessen Erscheinen für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins immer richtungweisend ist, beinhaltet nicht nur ein Transzendieren der irdischen Wirklichkeit, sondern auch Verwirklichung des göttlichen Gesetzes auf der Erde. So ist das Phänomen der Herabkunft des Gottes eng verbunden mit dem Aufstieg des Menschen.
Als höchste Verwirklichung des Göttlichen im Menschen ist der Avatar das vollkommene Vorbild für seine geistige Neugeburt. Dabei unterscheidet die Philosophie des Hinduismus zwei Aspekte der göttlichen Geburt:
»Der eine ist ein Abstieg, die Geburt Gottes in der Menschheit, die Gottheit, welche sich in menschlicher Gestalt und in der Natur zeigt - dies ist der ewige Avatar; die andere ist ein Aufstieg, die Geburt des Menschen in der Gottheit - der Mensch, welcher sich in die göttliche Natur und das göttliche Bewusstsein erhebt, über das Gesetz der karmisch bedingten Seelenwanderung hinaus. «6
Der Unterschied zwischen dem menschlichen Gott und dem göttlichen Menschen ist der, dass der Avatar seiner Identität mit brahman, der göttlichen Kraft, voll bewusst ist, ganz zum Unterschied vom Menschen, der, obwohl aus derselben Potenz geschaffen, von seinen Sinneswahrnehmungen befangen ist. Es ist diese immanente göttliche Lebenskraft, die es dem Menschen ermöglicht, die Bedeutung eines Avatars ahnend zu begreifen, da ja nur Gleiches Gleiches zu erkennen vermag.
Der Avatar, dessen Erscheinen einer uralten menschlichen Sehnsucht nach Erlösung und Erfüllung seiner tiefsten Wünsche entspricht, manifestiert sich ganz konkret, doch wird seine eigentliche Bedeutung jeweils nur von wenigen Zeitgenossen erkannt. So galt Christus für viele nur als Sohn des Zimmermanns aus Nazareth und dem orthodoxen jüdischen Klerus als störendes, ihre etablierten Positionen gefährdendes Element; wie auch Krischna, einer von vielen Prinzen seiner Zeit, seine Gottesmacht nur einigen wenigen Vertrauten offenbarte.
Adi Schankara7 der wohl bedeutendste Lehrer des Vedanta, hat das Phänomen des Avatars vielfach kommentiert. Er lässt ihn an einer Stelle sprechen:
»Die Unwissenden glauben, Ich habe mich erst jetzt manifestiert, doch bin Ich der ewig leuchtende Herr. Ich erscheine nicht allen Menschen, sondern nur denjenigen, die an mich glauben, denn ich halte mich hinter dem Schleier der yoga-maya verborgen. «8
Es wird im religiösen Schrifttum auch immer betont, dass allein die Unkenntnis des eigenen immanenten Selbst den Menschen in seiner Blindheit gefangen hält.
Bisweilen jedoch offenbart sich der Avatar als Ischwara, als Herr der Schöpfung, indem er die Begrenzung des menschlichen Zustandes auflöst und dem Gläubigen die geistige Schau zuteil werden lässt. Dabei entspricht der Verklärung des Gottes in Menschengestalt die Erleuchtung des Jüngers, dessen inneres Auge das Bewusstsein der göttlichen Transzendenz gewahrt:
»Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, und ging mit ihnen auf einen hohen Berg.
Und er ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie Licht. «9
»Und als er am Freitag am Kreuz aufgehängt wurde, war zur sechsten Stunde Finsternis auf der ganzen Erde. Und es stand mein Herr mitten in der Höhle und erhellte sie und sagte: ›Johannes, für die Menschen unten werde ich in Jerusalem gekreuzigt und mit Lanzen und Rohren gestoßen und mit Essig und Galle getränkt.
Mit dir aber rede ich, und was ich rede, höre! Ich habe dir eingegeben, auf diesen Berg zu gehen, damit du hörst, was ein Jünger vom Meister lernen muss und ein Mensch von Gott.‹
Und als er das gesagt hatte, zeigte er mir ein festgemachtes Lichtkreuz, und um das Kreuz herum eine große Volksmenge, die nicht nur eine Form hatte ...
Den Herrn selbst aber sah ich oben auf dem Kreuz, und er hatte nur eine Stimme, doch nicht die uns gewohnte Stimme, sondern eine liebliche und gütige und wahrhaft Gott gehörige...
›Die nicht einförmige Menge um das Kreuz herum ist die untere Natur ... noch ist nicht jedes Glied des Herabgekommenen zusammengefasst. Wenn aber die Menschennatur und ein mir nahekommendes und meiner Stimme folgendes Geschlecht aufgenommen ist, wird der, der mich jetzt hört, mit diesem vereint werden und nicht mehr sein, was er jetzt ist, sondern über ihnen sein wie ich jetzt.
Denn solange du dich noch nicht selbst mein eigen nennst, bin ich nicht das, was ich bin ... Als ersten erkenne den Logos, dann wirst du den Herrn erkennen, an dritter Stelle aber den Menschen und was er gelitten hat ... «10
»Siehe das ganze Weltall, mit allem, was sich bewegt und nicht bewegt, als eine Einheit, als ein Ganzes in meinem Leib.
Doch mit deinem irdischen Auge kannst du mich nicht sehen. Ich will dir ein Geistesauge geben- siehe meine höchste mystische Natur:
... Mit vielen Gesichtern und Augen, vielseitig, wunderbar, mit göttlichen Dingen geschmückt, mit himmlischen Kräften versehen.
Göttlich bekleidet und bekränzt, durchdrungen von himmlischen Wohlgerüchen, ein überaus wunderbares, lichtvolles, unendliches, allsehendes Wesen.
Wenn tausend Sonnen zugleich am Himmel aufflammen würden, käme es wohl nicht dieser Herrlichkeit gleich.
Da sah nun Ardschuna das ganze Weltall, das so mannigfaltig in seiner Erscheinungswelt ist, als ein Einziges, in den Körpern der Götter als viele Teile geoffenbart.«11
Der Augenblick der Bewusstseinswandlung, und davon zeugen auch die Erlebnisberichte der Schüler Babajis12, wird erlebt als ein Moment höchster Weihe und als ganz besonderer Gnadenbeweis des Göttlichen: dem Glaubenden widerfährt die Schau dessen, was als das ganz Andere erlebt wird, ihm aber näher ist als das eigene Selbst. Das schauende Bewusstsein wird eins mit dem Geschauten, und die essentielle Beziehung alles Gewordenen mit dem Ursprung des Seins wird zur entscheidenden Erfahrung..
4. Der Avatar aus der Sicht des Schaiwismus13
Im Drama der Schöpfung fallen den Gyanis, Yogis und Siddhas, d.h. den Weisen, Asketen und Menschen mit übersinnlichen Kräften, eine wichtige Rolle zu, doch ist es der Avatar, der die entscheidenden Impulse zur Entwicklung des menschlichen Bewusstseins gibt.
Unter den Avataren sind die meisten sterblich; wie Krischna und Christus verlassen sie ihren Körper am Ende ihrer irdischen Mission. Einige wenige, die Purnavatare, die das Göttliche in seiner höchsten Potenz inkarnieren, sind unsterblich. Von ihnen berichtet die Tradition, dass sie keinen körperlichen Tod sterben, dass sie immer und überall gegenwärtig sind, sich zu bestimmten Zeiten manifestieren und sonst dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Alle Purnavatare sind Inkarnationen