Es ist sehr still geworden. Eine klare Sternennacht breitet sich über die weite Landschaft. Einige vermummte Gestalten haben sich um den Erzähler versammelt. Sie hocken beim dämmrigen Schein eines Öllämpchens und lauschen seinen Ausführungen. Ich setze mich zu ihnen.
2. Zur Philosophie des Hinduismus
Es ist der Glaube der Hindus1, dass der Mannigfaltigkeit der Welt eine letzte Einheit zugrunde liegt, und als religiöser Mensch sieht er seine Aufgabe darin, diese Kraft zu ergründen, wie sie ihm immer und überall in immer neuen Maskierungen entgegentritt.
Diese an sich selbst, im Kosmos und der Umwelt erlebten Mächte sind im Mythos personifiziert: der Raum entfaltet die Vielfalt des Ureinen, was im Polytheismus seinen Niederschlag findet, der Verehrung der vielen Aspekte der letztlich einen göttlichen Macht.
Die Vielfalt der Gotteserscheinungen basiert auf einer Dreiheit: Die Schöpferkraft wird verehrt im Gott Brahma, die welterhaltende Kraft im Gott Vischnu und die Kraft, die alles Gewordene auflöst und verwandelt, wird geschaut als der Gott Schiwa.
Allen Göttergestalten ist außerdem eine große Göttin vermählt, die in ihrer Funktion dem Partner angemessen ist. Die Göttin ist die dem Gotte eigene Kraft (Schakti), die in sich noch vereint, was in dem Gatten zwiefältig erscheinen kann; denn seit den Veden ist jede Gottheit ambivalent und manifestiert wohlwollende, gnadenreiche, wie auch fürchterliche, gewaltsame Aspekte. Entsprechend dieser Doppelaspektigkeit des Göttlichen in seiner Offenbarung befinden sich auch alle Kräfte und Formen der Erscheinungswelt gleichzeitig im Antagonismus wie in der Identität.
Nach der traditionellen Überlieferung offenbart das Universum in seiner Manifestation aller Welten und Erscheinungsformen eine unerschütterliche zeitlose Norm oder Gesetzlichkeit, das sanatana dharma, identisch mit der absoluten Wahrheit und als Grundstruktur allem Geschaffenen immanent. Jede Abweichung von dieser transzendenten Gesetzmäßigkeit, die sich in allem Gegenständlichen widerspiegelt, äußert sich als Verfall, Krankheit und Chaos.
Der Lauf und die Entwicklung des Kosmos, der Erde und des Lebens auf ihr werden geschaut vor dem Hintergrund gigantischer, Hunderttausende von Jahren währender Zeitzyklen, den mahayugas. Zweitausend solcher mahayugas, oder achtmillionensechshundertvierzigtausend Jahre machen ein kalpa oder Äon aus, ein Tag und eine Nacht des Schöpfergottes Brahma.
Die kleineren Zeitabschnitte, oder yugas, enthalten jeweils vier Zeitalter, die eine absteigende Tendenz des sanatana dharma, des ewigen geistigen Gesetzes und Grundlage allen Lebens, manifestieren. Dieser Verfall der göttlichen Norm und der Vollkommenheit des Lebens beginnt schon nach dem ersten Zeitabschnitt, dem satya yuga, dem Zeitalter der Wahrheit, und endet mit dem kali yuga, dem dunklen Zeitalter, in welchem nur noch ein Viertel der Wahrheit wirksam ist.
Nach einem klassischen Schriftstück hinduistischer Mythologie2 hat dann die menschliche Gesellschaft einen Zustand erreicht, »wo Besitz allein Vorrang gewährt, Reichtum als einzige Tugend gilt, wo nur die Leidenschaft Mann und Frau verbindet und nur Unwahrheit zum Erfolg führt, wenn der Genuss der Sinne als höchste Glückseligkeit gilt und äußere Formen mit wahrer Geistigkeit verwechselt werden«.
Das Abweichen von der Norm und der Verfall des göttlichen Gesetzes bis zu seiner Umkehrung führt schließlich zur Auflösung des Schöpfungsprozesses und einer weltweiten Zerstörung des Geschaffenen.
Dies sieht die Götterlehre als das Werk des Gottes Schiwa und seiner Gemahlin Mahakali. In der Periode kosmischer Nacht, in der wir nach dieser Zeitrechnung jetzt leben, wird aber schon wieder der Keim gesät für ein neues Zeitalter, in welchem die Welt in ihrer ursprünglichen vollkommenen Reinheit und unberührten Schönheit wieder ersteht. Somit ist Schiwa, die Kraft der Auflösung und Verwandlung, wieder eins mit Brahma, dem Prinzip der Schöpfung.
Eingespannt in diesen Rahmen ist der Mensch, der, in der Sprache der Upanischaden, von seinem Wesen her, vom atmanoder Selbst, identisch ist mit dem letztlich einen Gott, dem paramatman oder universalen Selbst. Als Geschöpf aber ist der Mensch ebenso gebunden an maya, die Weltillusion, mit der er sich durch das Vergängliche, Grobstoffliche seiner Sinne und seines Körpers identifiziert.
Alles Vergängliche aber wird gleichgesetzt mit Unwirklichkeit und alles Transzendente, Zeitlose mit Realität, und das Befangensein in der Scheinwirklichkeit der Welt gilt als der Ursprung allen Leides. Dieses wird nicht bewertet als Schuld an sich, sondern als Unwissenheit um die wahre Natur der Dinge, und das Thema hinduistischer Religionsphilosophie, wie des religiösen Lebens überhaupt, ist deshalb das Überwinden des Leides durch Erlangen des Wissens um die Wahrheit, um die Gesetzlichkeit als immanente Struktur alles Manifestierten. Es ist die Erkenntnis der Wahrheit, die zur Befreiung aus der Kausalität führt, aus dem endlosen Kreislauf von Ursache und Wirkung.
Das indische ›Denken‹ ist den Weg der Innenschau gegangen, deren Ziel nicht die theoretische und praktische Bewältigung der äußeren Wirklichkeit war, sondern die Beobachtung und Aufgliederung geistiger Vorgänge, die ihren Niederschlag in der religiösen Erfahrung als Erkenntnis vom Ursprung des Lebens gefunden hat.
In diesem Zusammenhang betrachten sich indische Weise und Asketen als lebende Laboratorien, in denen experimentiert wird, da nur eine Metamorphose des Menschen, vielmehr seines Bewusstseins, eine wahre Lösung seiner Probleme bringen kann. In ihnen vollzieht sich die Wandlung der stofflichen Elemente zur Bildung, zum Wachstum und zur Vollendung des ›himmlischen Leibes‹. Diese Transformationsprozesse werden bewertet als Dienst an der Materie, an der göttlichen Weltmutter. Für das Gros der Menschheit sind sie Vorbilder des Göttlichen in seiner manifestierten Potenz und Spiegelbild für die Vervollkommnung des eigenen Strebens.
Das höchste Sein, das jenseits von allem ist, was mit der Welt identifiziert wird, ist zugleich die ursprüngliche Seinsquelle des Menschen, wie der Ursprung des Heiligen.
Ziel der Bewusstseinswandlung ist die dauerhafte Verbundenheit, jenseits aller Illusion und allen Zweifels, mit dem immanent Göttlichen in der Erscheinungswelt und, darüber hinaus, in der göttlichen Transzendenz. Aus diesem Bewusstsein heraus ist auch alles zu bejahen, ob erhaben oder erschütternd, und nichts zu verneinen, denn alles ist ja eine Manifestation des Göttlichen.
Die göttliche Lebenskraft, die das Weltall durchdringt und jedem Geschöpf innewohnt, dieses anonyme antlitzlose Wesen hinter den zahllosen Masken, wird sowohl in der Erscheinungswelt wie auch als unsere inwendige Wirklichkeit erlebt.
Nach den Upanischaden und Puranas kann das Sehnen des Menschen nach Erfüllung seiner tiefsten Wünsche nur durch eine göttliche Inkarnation verwirklicht werden. Ihre Biografie ist zu verstehen als ein Symbol und eine Verkörperung kosmischer Gesetzlichkeit.
3. Der Avatar als göttliche Inkarnation
Die Lehre vom Avatar3 ist ein Grundpfeiler hinduistischer Theologie. Diesem fällt, insbesondere in der Entwicklung einer periodisch wiederkehrenden Endzeit, eine entscheidende Rolle zu.
Große Avatare sind selten. Sie erscheinen immer zu einer Zeitenwende, zu Krisenzeiten der Weltgeschichte, um den Körper der Welt von einer ihn zersetzenden Krankheit durch radikalen Eingriff zu heilen. Das Erscheinen einer Erlöserfigur in Menschengestalt wird daher oft mit einem einen ertrinkenden Schwimmer Rettenden verglichen, der ihn nur dadurch vom Tode bewahren kann, dass er sich in denselben See stürzt.
Das Phänomen der Herabkunft des Göttlichen von der Transzendenz in die Erscheinungswelt ist kein einmaliges historisches Ereignis, vielmehr ist die immer wieder sich offenbarende heilige Kraft ein feierliches Leitmotiv im unendlichen Drama des kosmischen Prozesses.
Als weltbewegende Kraft sind die Ereignisse, Lehren und Bedeutung, ausgelöst durch das Erscheinen des Avatars, überliefert im klassischen Schrifttum, den großen Epen, den Puranas, Schastras und Upanischaden, wie auch