III
Das Tal war überschaubar wie eine Puppenstube, eingerahmt von jetzt im späten Mai kraftstrotzenden Buchen. Eine Sandpiste stieß in das Rund, endete auf dem breitgefahrenen Vorplatz eines klapprigen Schuppens. Ein paar vergessene Apfel- und Zwetschgenbäume krümmten sich auf dem sanften Hang den Schuppen entlang.
Oberhalb der verschlafenen Szene saß eine kleine, schlanke Frau von Mitte dreißig am Waldrand und sah nachdenklich auf den Schuppen hinab. Ihre Beine steckten in bleichen Jeans, die Füße in ausgetretenen Wanderstiefeln. Sie trug einen viel zu großen grauen Pullover mit aufgekrempelten Ärmeln, darüber einen breiten speckigen Ledergürtel voller Schlaufen und Taschen mit Werkzeug. Sie hatte die Beine aufgestellt und ihre Arme auf den Knien abgelegt. Sie bewegte sich nicht, schwer hingen die von Schwielen bedeckten Hände, in der Rechten hielt sie ein Messer. Der Wind fuhr ihr durchs Haar, sie ließ es mit ihm spielen, ohne darauf zu achten. An ihrer Seite sicherte eine große graue Hündin mit aufmerksamen Ohren die Einöde nach allen Richtungen.
Wäre die Frau ein Vogel gewesen, sie hätte im Flug einen neugierigen kleinen Schlenker gemacht, um in dieses Tal zu blicken, wäre getrudelt von Hang zu Hang. Sie hätte innegehalten über dem Schuppen, der ausgedünnten Obstwiese, rüttelnd den in den Büschen knispernden Mäusen bei ihrem Tagwerk zugesehen, einen übermütigen Pfiff losgeschickt, der den Frühling preist, und wäre weitergeflogen. Aber sie war kein Vogel. Sie hatte einen Auftrag in dem kleinen Tal, im Innern seines Schuppens. Seit zwei Wochen wartete sie nun, sah den Buchen zu, wie sie das Dach des Waldes mit ihrem Grün zu schließen versuchten, und wägte ab. Ließ das Tal auf sich wirken, ihre Entscheidung reifen. Es gab keinen Grund mehr zu warten. Keinen vernünftigen.
Sie kannte die Füchse, die des Nachts in dem Gerümpel auf dem Hof des Schuppens tollten, hörte das Stöhnen der alten Buchen im Schlaf, das Schmatzen aufsteigender Säfte in ihren endlosen Stämmen. Sie hatte den Buschwindröschen zugesehen, wie sie sich am Fuß der mächtigen, noch nicht erwachten Bäume nach der Sonne reckten. Sie wußte, wie die Winde einfielen in das kleine Tal, wußte, in welchem Winkel der Schatten am tiefsten war, auf welchem Stück Hang die Sonne am längsten schien, wo die Feuchtigkeit am Abend zuerst Einzug hielt und wo der Tau des Morgens am längsten verweilte. Sie kannte die Bewohner des kleinen Tals, die Kaninchenfamilie hinter dem gebeugten Zwetschgenbaum, die Drosseln, die das tief in dem alten Rotdornbusch verborgene Nest wieder besetzten. Sogar die Fledermäuse hatte sie des Nachts vorbeizischen sehen und sich gefragt, wo sie sich tagsüber verbargen.
Und sie hörte über all den friedlichen Geräuschen die Schreie aus dem Schuppen dringen. In Wellen wogten sie durch das Tal, schlugen hart an den Waldsaum, prallten zurück und verloren sich wimmernd zwischen den Sandmulden und Schrotthaufen des Vorplatzes. Dieses Tal war ein Bombentrichter aus vormenschlichen Zeiten, in dessen Mitte ein von einer Granate getroffenes Wesen darauf wartete zu verbluten.
Die Frau atmete tief ein. Es war Zeit für eine Entscheidung. Sie spürte die warme Schulter der Hündin an ihrem Bein zucken, streckte die Linke aus und kraulte ihr den Hals. Das Tal war ein sonderbarer Ort für einen Bootsschuppen. Es gab keine Aussicht, nur Begrenzung und vor allem kein Wasser. Das Boot lag wie in einem Erdloch gefangen. Bei Westwind könnte es das Wasser des nahen Sees riechen, aber wann war schon Westwind in Mecklenburg-Strelitz.
Der Vorplatz war angefüllt mit vergeblichen Versuchen, auf die die Frau vom Waldrand herabsehen konnte. Halb reparierte Kutschen, verlorene Fässer, deren Inhalt sie auf ihren Erkundungsgängen lieber nicht überprüft hatte. Anfangs war sie aus Vorsicht nur nachts heruntergestiegen, wenn die Schreie des Bootes zu einem erschöpften Ächzen herabgesunken waren. Aber niemand ließ sich blicken. Das Schloß des Schuppens war verschlossen, aber völlig verrostet. Es war ein Leichtes, zum Boot zu kommen. Ein Tritt und die Metallsplitter zerstoben in alle Richtungen.
Die Frau zog sich den Eimer mit den Maränen, die sie am Morgen gefangen hatte, zu einem großen Stein, um den Fisch zu verarbeiten. Die linke Hand flach auf dem Fisch, mit der rechten ein schneller Schnitt, um den Bauch aufzuschlitzen, der sich mit resonanzlosem Schmatzen öffnete. Sie leerte die Bauchhöhle mit einer geschmeidigen Bewegung des Messers. Formlos glitten die Innereien am Stein hinab in das Gras, wuchs der Haufen aus glänzendem Abfall. Die Hündin verfolgte jede ihrer Bewegungen mit den Augen, den großen Kopf scheinbar entspannt auf den Vorderpfoten gelagert.
Sie hatte ihr den Namen Eiche gegeben, nach dem Baum, bei dem sie sich gefunden hatten. In ihrer Zeit in Irland hatte die Frau ihre Mittagspausen unter seiner Krone verbracht und an einem Tag im August lag dort eine struppige, magere Hündin mit mißtrauischen Augen. Die Frau hatte ohne zu zögern ihre übliche Position eingenommen und an den Baumstamm gelehnt ihr Brot gegessen. Am nächsten Tag hatte sie der Hündin etwas übriggelassen, nach drei Tagen war das Mißtrauen aus den Augen geschwunden und die große Graue hinter ihr her getrottet. Seitdem waren sie ein Paar. Eiche hatte ein paar schillernde Maränenschuppen abbekommen. Wie eine unvollendete Krone blinkte es auf ihrer Stirn zwischen den hoch aufgerichteten, der Frau zugewandten schwarzen Ohren. Sie hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Die Frau lachte. »Du kannst nicht alles bekommen, sonst mußt Du den ganzen Tag saufen.«
Die Rute der Hündin klopfte sacht auf den Waldboden.
Sie legte den letzten Fisch zu den anderen in den Eimer und ihr Messer dazu. Sie stand auf und bedeutete Eiche, sie könne den Schlachtplatz aufräumen. Die Hündin stürzte sich auf die Innereien. Vierzig Kilo Gier, nur im Hier und Jetzt. Das Tal füllte sich mit ihrem Schmatzen.
Die Frau wartete, bis Eiche mit einem zufriedenen Rülpser ihr Mahl für beendet erklärte, sich umständlich das Maul leckte und sie ansah. Sie nahm den Eimer mit den Maränen und stieg in den Wald auf. Die Hündin folgte ihr trottend. Als sie den See witterte, lief sie voraus. Ein wasserverdrängendes Platschen zerlegte die Stille, sogar die Vögel hielten erschrocken den Atem an.
Als die Frau am Ufer ankam, fand sie ihre Hündin bis zu den Ohren im See liegend. Die Frau wusch ihr Abendessen und reinigte das Messer. Guter Umgang mit dem Werkzeug war alles. Das Messer und sie waren verwachsen nach all den Jahren, ein altes Ehepaar, längst jenseits allen Streits. Sie trocknete es sorgfältig an der Jeans ab und schob es in die Scheide an ihrem Gürtel. Sie ging am See entlang, bog in einen von Zweigen verdeckten Waldweg ab, wo ihr Auto stand. Sie verstaute die Fische im Kofferraum, interessiert beäugt von der struppig nassen Eiche. Die Frau setzte sich auf die Rückbank des Autos, schaltete ihr Handy an und tippte: Auftrag erhalten. Erbitte Wegbeschreibung zum Lagerplatz. Treffen morgen 18 Uhr. Gruß Penta.
Sie stand mitten auf dem Hof in der Sonne und sah die Staubwolke von weitem. Als schließlich das Motorengeräusch zu hören war, begann es in ihren Gliedern zu zucken. Sie atmete ruhig, verlagerte die Konzentration in ihre Mitte und gab den Beinen Schwere. Ihr Blick fiel auf den Waldrand, an dem Eiche auf sie wartete.
Ein koreanischer verstaubter Geländewagen bog auf den Hof ein. Sie rührte sich nicht. Leicht schleudernd kam er in einem Bogen dicht vor ihr zum Stehen. Im gleichen Moment öffnete sich die Fahrertür und ein großer, schwerer Mann sprang aus dem Auto. Ohne die Tür zu schließen wandte er sich zu ihr und kam mit nachlässig-kraftvollen Schritten näher, die Hand ausgestreckt, lange, bevor er sie erreichte. Da kannte jemand keine Hindernisse. Die Welt wartet auf meine Eroberung, Flucht ist was für Weiber.
»Bin ich etwa zu spät?«, fragte die Stimme aus der Masse Mann. Annähernd blond und deutlich ungewaschen stand er, in einem schwarzen T-Shirt mit der ehemals goldenen Aufschrift Urban Cowboy, vor Dreck grauen Jeans und vergammelten halbhohen Gummistiefeln vor Penta. Hinter ihm legte sich der märkische Heiligenschein aus Staub und Sand nur langsam.