Der einzige Kandidat, der auch nur annähernd infrage gekommen wäre, war jemand, den ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen hatte und von dem ich genau wusste, dass er nicht mehr am Leben war. Selbst eine alles andere als angenehme Ablenkung war mir in dieser Situation willkommen. Ich schloss wieder meine Augen und dachte zurück an jenen Tag vor siebzehn oder achtzehn Jahren, als ich einen Kampf gewonnen hatte, indem ich mich weigerte zu kämpfen.
Ich habe Dir wahrscheinlich nie bei einem spätabendlichen Gläschen Wein von Philip Waterson erzählt, oder? Kein Wunder, wie Du noch sehen wirst. Er war ein Junge, der im selben Dorf wohnte wie ich. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang. Er war ziemlich klein, hatte ein Gesicht wie ein Frettchen und strohblonde Haare, die ihm wahllos in unregelmäßigen Büscheln auf dem Kopf zu stecken schienen, und er zog mehr oder weniger ständig eine finstere Grimasse. Beth dürfte sich an ihn erinnern. Die ganze Zeit in der Grundschule und in der Unterstufe waren wir auf denselben Schulen und in denselben Klassen. Philip war eigentlich nirgendwo beliebt. Meine kleine Clique, mit der ich unterwegs war, wäre jedenfalls nie auf den Gedanken gekommen, ihn mit uns Fußball spielen zu lassen oder ihm vorzuschlagen, mit uns am Samstagvormittag in die Stadt zu gehen, oder ihn zu einem von uns nach Hause zum Tee einzuladen. Ich glaube, das hat ihn ziemlich verbittert, als er heranwuchs, obwohl ich nicht ganz sicher bin, woher ich das weiß. Vielleicht habe ich ihn irgendwann einmal etwas darüber sagen hören.
Jedenfalls, eines Tages, als ich sechzehn oder siebzehn war, saß ich im La Rue, dem Café in der High Street, wo ich mich immer mit meinen Freunden traf, und Philip Waterson war auch da. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, aber ich muss wohl genau in dem Moment, als Philip mit einem frischen Becher Kaffee in der Hand vorbeikam, von dem Tisch aufgestanden sein, an dem ich mit meinen Freunden saß, und mein Arm schwang herum und schlug ihm den Becher aus der Hand. Der Kaffee spritzte über seine Hosen und auf den Boden. Das Blöde war, dass gerade, als ich aufstand, jemand etwas Urkomisches zu mir gesagt hatte, sodass ich genau in dem Moment, als ich seinen Kaffee durch die Luft segeln ließ, laut auflachte. Irgendwie war ich noch nicht ganz mit dem Lachen fertig, als er aufblickte, nachdem er vergeblich versucht hatte, seinen Becher aufzufangen, bevor er zu Boden fiel, und völlig ausrastete.
»Das hast du mit Absicht gemacht!«, brüllte er.
»Nein, habe ich nicht«, sagte ich. »Es war ein Versehen.« Dabei achtete ich aber darauf, das Lächeln festzuhalten, das noch von dem Lachen auf meinem Gesicht übrig war, für den Fall, dass es sich noch als nützlich erweisen könnte, wenn Du weißt, was ich meine. Hm, wahrscheinlich weißt Du es nicht. Du warst schon immer netter als ich.
Jedenfalls tat es das. Sich als nützlich erweisen, meine ich. Als er merkte, dass meine Freunde die Angelegenheit auch nicht übermäßig ernst nahmen, quollen Philip die Augen aus dem Kopf. Er baute sich auf den Zehenspitzen zu mehr als voller Größe auf, trat mit seinem wutverzerrten Gesicht dicht an mich heran und spie mir die Worte entgegen:
»Komm mit raus, du Arsch! Oder bist du zu feige zum Kämpfen?«
Ich glaube, ich hätte kein Problem damit gehabt, mich bei ihm zu entschuldigen, die Scherben von seinem Becher aufzusammeln, den Boden aufzuwischen, ihm einen neuen Kaffee zu besorgen und in vernünftigem Rahmen alles andere zu tun, was er verlangt hätte, wenn er nicht sofort so reagiert hätte. Aber meine Freunde waren dabei, verstehst Du, und sie waren gespannt, was sich nun entwickeln würde, und ich war als Jugendlicher nicht gerade ein Ausbund an Selbstbewusstsein. Mir kam es so vor, als hinge die weitere Entwicklung meiner Glaubwürdigkeit von diesem Moment ab. Das ist keine Entschuldigung für das, was ich dann tat, Lance; ich versuche nur zu erklären, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand und beinahe alles getan hätte, um aus dieser Situation herauszukommen, ohne wie ein erbärmlicher Versager dazustehen.
Wie die meisten Leute denke ich am schnellsten, wenn ich in der Klemme sitze. Als ich da stand und diese funkelnden kleinen Augen mich giftig anstarrten, fiel mir ein, wie frustriert und hitzig Philip während der ganzen Grundschule und später immer über seine schulischen Leistungen gewesen war. Wenn er eine Rechenaufgabe nicht herausbekam oder in einem Test nicht mehr wusste, wie ein Wort geschrieben wird, geriet er oft in eine rasende Wut gegen sich selbst und schleuderte seinen Zorn wie Dolche um sich, meistens in die Richtung des Jungen, der neben ihm die Schulbank drückte. Dann bekam er natürlich höchstwahrscheinlich Ärger mit dem Lehrer und kam sich am Ende vor, als würde er doppelt bestraft. Er fühlte sich wie ein Schwachkopf, weißt Du, und es machte ihn wütend, sich wie ein Schwachkopf zu fühlen.
Ich war ein ganzes Stück größer als Philip Waterson und ich schätze, wenn es zu einer Schlägerei gekommen wäre, hätte ich wohl gewonnen. Das Problem war nur, dass mir vor körperlicher Gewalt, vor Zusammenprall, Blut und Schmerz, schon immer gegraut hat. Das geht mir bis heute so. Wenn es aber um eine andere, möglicherweise sogar gefährlichere Art von Kampf ging, war ich offenbar nicht von derlei Skrupeln geplagt.
Ich ließ das Lächeln auf meinem Gesicht, zog es vielleicht sogar noch etwas in die Breite. Kann sein, dass ich es darauf anlegte, so auszusehen wie der Lächler heute im Zug.
»Warum bleiben wir nicht hier drinnen und machen stattdessen einen Intelligenztest«, sagte ich und versuchte dabei eine träge, sarkastische Gelassenheit auszustrahlen, die ich nicht im Mindesten empfand. »Dann kann ich noch sicherer sein, dass ich gewinne, und als zusätzlichen Bonus habe ich hinterher keine Last damit, mir dein ekliges Mutantenblut von den Knöcheln zu waschen.«
Beinahe wäre er vor Wut in Tränen ausgebrochen. Ich glaube, er weinte tatsächlich, in dem Sinne, dass sein Atem plötzlich in kurzen, krampfhaften Stößen ging. Wäre es möglich gewesen, so hätte er sich wohl am liebsten durch meine Haut in mich hineingebohrt, sich umgedreht und mich von innen her zu Klump und Asche geschlagen. Stattdessen trat er einen halben Schritt zurück, holte mit dem Kopf aus wie eine Schlange kurz vor dem Zubeißen, machte ein scheußliches Geräusch in seiner Kehle und ließ dann seinen Kopf vorschnellen, um mir mitten ins Gesicht zu spucken.
War ich froh, dass ich nur mit geschlossenem Mund lächelte.
Das meiste von dem klebrigen Speichel traf mein Kinn und tropfte dann mit einem zäh klatschenden Geräusch auf mein Hemd. Ich wusste genau, was ich in diesem Moment am liebsten getan hätte. Ich spüre den Impuls wieder ganz frisch, während ich dies schreibe. Es juckte mich regelrecht, mit dem Arm auszuholen und ihn dann um hundertachtzig Grad mit solch donnernder, gezielter, keulenhafter zentrifugaler Wucht gegen die Seite seines kleinen Frettchenkopfes zu schwingen, dass sein ganzer Körper wie ein Propeller durch den Raum segeln und durch die Tische und Stühle poltern würde, bis er gegen die Wand krachen und zu Boden gleiten würde wie ein nutzloser, toter Gegenstand, der kaputtgegangen war und weggeworfen wurde.
Das tat ich aber nicht, Lance. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich nicht einmal dazu genug Freundlichkeit oder genug Spontaneität aufbrachte. Stattdessen verankerte ich meine rechte Hand sicher hinter meinem Rücken, schaute unverwandt in die aufgebrachten, seltsam flehenden Augen, mit denen er mich ansah, und lachte. Ich versuchte den Anschein zu erwecken, als ob ich es schon die ganze Zeit nur darauf angelegt hätte, von ihm bespuckt zu werden. Bewusst verzichtete ich sogar darauf, mir das eklige Zeug vom Kinn oder vom Hemd zu wischen. Ich lachte einfach nur lange und laut, um ihm dann achtlos den Rücken zuzukehren und mich wieder zu meinen Freunden zu setzen. Während ich mich setzte, kam mir freilich der Gedanke, dass Philip so außer sich vor Wut sein könnte, dass er imstande wäre, einen Stuhl zu nehmen und ihn auf meinem Kopf zu zerschmettern, aber es dauerte nur Sekunden, bis meine höchst amüsierten Begleiter mir zu erkennen gaben, dass er gegangen war. Ich selber hörte und sah nicht, wie er ging. Endlich konnte ich mir eine Serviette nehmen und mir den ekelhaften Schleim vom Kinn und vom Hemd abwischen. Du kannst Dir denken, dass die ganze Sache mich mehr erschütterte, als ich zeigen oder zugeben wollte, aber in dem Moment herrschte bei mir die Erleichterung vor,