Aber da ich ja gar nicht schlafen konnte, befinde ich mich immer noch in meinem wachen Albtraum und kann auch nicht daraus aufwachen. Tut mir leid – ich fange an zu faseln. Das, was heute Nachmittag im Zug passiert ist, war kein Traum. Ich sage Dir, Lance, es hat mein ganzes Wesen durch und durch gerüttelt, vom Geist bis zu den Knochen. Es ergibt nicht den geringsten Sinn, und trotzdem ist es wirklich passiert.
Ich höre jetzt mal kurz auf, um ins Bad zu gehen. Zum Glück ist es gleich nebenan. Da ich kein Amerikaner bin, sollte ich hinzufügen, dass ich bei der Gelegenheit wahrscheinlich auch gleich auf die Toilette gehen werde. Wenn ich wieder da bin, werde ich mich vielleicht dazu durchringen können, über das zu schreiben, was im Zug passiert ist. Vielleicht auch nicht.
Geh nicht weg. Ich weiß, du bist gar nicht da, aber – geh einfach nicht weg.
Bin wieder da. War im Bad. Ein paar der Fußbodendielen unter dem Linoleum haben sich etwas gelockert. Wenn man das Gewicht darauf auch nur leicht verlagert, knarren und ächzen und stöhnen sie. Ich weiß genau, dass das Geräusch, das diese Dielen von sich geben, wenn man darauf tritt, im Wohnzimmer unter mir noch lauter zu hören ist als hier oben. Ich schätze, das ganze Zimmer unten wirkt wie ein riesiger Verstärker.
Über das, was jetzt kommt, wirst Du bestimmt lachen. Na ja, ein bisschen.
Während ich eben im Bad war, habe ich mich mehr bewegt, als eigentlich nötig gewesen wäre, damit, falls sich irgendwelche Einbrecher unten zu schaffen machen, sie merken, dass jemand wach ist und möglicherweise gleich hinunterkommen und sie stören wird. Ja, ja, ich weiß, wie paranoid sich das alles für jemanden anhört, der noch alle Tassen im Schrank hat, aber nach den heutigen Ereignissen bin ich randvoll mit einer Furcht, die sich nicht in Worte fassen lässt. Hört sich melodramatisch an, was?
Ich habe mich schon oft gefragt, wie ich damit umgehen würde, wenn ich einmal mit echter Gewalttätigkeit konfrontiert wäre. So richtig begegnet ist sie mir bisher kaum, aber durch das Fernsehen und die Zeitungen und so ist mein Kopf ständig voll davon. Wie würde ich damit klarkommen? Was ist angreifbarer, mein Stolz oder mein Körper? Was meinst Du? Wie würdest Du damit fertig werden?
Während der letzten paar Stunden habe ich im Geist eine ganze Palette von Szenarios durchgespielt. Bei einem davon spielt das Telefon eine Rolle. Ich weiß nicht, ob Du Dich erinnerst, aber ich habe ein Telefon auf einem der Regalbretter des Bücherschranks neben der Tür in meinem Schlafzimmer stehen. Ich habe über etwas nachgedacht, was mir um diese Uhrzeit in dieser Nacht geradezu lebenswichtig erscheint. Falls ich irgendwann in den frühen Morgenstunden jemanden unten in mein Haus einbrechen hören würde, wie geschickt und effektiv würde ich mich eigentlich dabei anstellen, wenn ich das Telefon da drüben benutze? Ich meine, wäre es zum Beispiel besser, jede Menge Lärm und Radau zu machen, wenn ich die Polizei anrufe, oder wäre es vernünftiger, so leise wie möglich in die Muschel zu flüstern?
Ob ich nun schreie oder flüstere, auf jeden Fall wäre es ratsam, mir meine Darstellung des Geschehens vorher sorgfältig zurechtzulegen, um der Polizei in der kürzestmöglichen Zeit so viele Informationen wie möglich geben zu können. Da stimmst Du mir zu, nicht wahr? Ich meine, mich aus einschlägigen Fernsehsendungen im Laufe der Jahre daran zu erinnern, dass konkrete persönliche Angaben in solchen Fällen so ziemlich das Wesentliche schlechthin sind. Das muss wohl auch so sein, oder? Ich meine, was hätte es für einen Sinn, unzusammenhängendes Zeug darüber zu faseln, was gerade passiert, wenn die Person am anderen Ende nie die Adresse zu hören bekommt, wo die Hilfe benötigt wird? Gar keinen natürlich. Nun, ich glaube, ich bin so weit, dass ich die Mitteilung auf die wesentlichen Punkte zurechtgetrimmt habe. Ich habe es sogar einstudiert. Folgendes würde ich sagen, glaube ich.
»Hallo, mein Name ist Thomas Crane, C-R-A-N-E. Ich wohne in Nr. 5 Shropshire Gardens, Lanworth, einem der Häuser, deren Rückseite an den Schulhof grenzt. Das ist der Abzweig nach rechts gleich vor der Esso-Tankstelle an der Straße nach London, wenn Sie von Swanbridge hereinkommen. Mein Haus ist das dritte auf der linken Seite. Im Vorgarten steht so ein rot angestrichener alter Pflug als Dekoration. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass ich aus dem Erdgeschoss beunruhigende Geräusche höre. Ich glaube, ich habe Einbrecher im Haus. Könnten Sie bitte jemanden vorbeischicken, um nach dem Rechten zu sehen? Vielen Dank.«
Was könnte ich noch hinzufügen oder weglassen? (Lächerlicherweise habe ich tatsächlich mit dem Gedanken gespielt zu erklären, dass der Pflug nichts mit mir zu tun hat, sondern noch aus der Zeit stammt, als ich zusammen mit meinen Eltern in Lipsham wohnte, und dass ich ihn bei meinem Umzug mit hierher geschleppt habe, weil ich sonst nichts damit anzufangen wusste.) Vielleicht würde ich auch fragen, was der Mann oder die Frau am anderen Ende der Leitung meint, dass ich tun sollte, während ich warte. Mein innigster Wunsch ist, dass ich dann streng angewiesen würde, ja befohlen bekäme, oben zu bleiben und unter keinen Umständen den Eindringlingen entgegenzutreten. Dann würde ich widerstrebend versprechen, vernünftig zu sein.
Warum schreibe ich diesen ganzen Blödsinn, Lance? Ich weiß, warum. Es liegt an der Zugfahrt heute. An dem, was im Zug passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich je wieder werde schlafen können.
Nun gut. Tief Luft holen. Noch einmal tief Luft holen. Sauerstoffmangel herrscht in meinen Lungen heute Nacht jedenfalls nicht! Folgendes ist passiert. Dadurch, dass ich darüber schreibe, werde ich ja wohl kein zweites Ereignis dieser Art heraufbeschwören, oder? Nein, Tom, verdammt noch mal, jetzt hör auf, dich so blöde anzustellen.
Ich war oben in Cumbria, um meine Großtante Ethel in dem Pflegeheim zu besuchen, in dem sie wohnt. Du bist ihr nie begegnet, aber ich habe Dir und Beth von ihr erzählt, und Ihr sagtet beide, es höre sich so an, als ob sie eine tolle Frau wäre. Sie hat Mitte des letzten Jahrhunderts einen Monat als Obdachlose verkleidet auf der Straße zugebracht, um für irgendeine katholische Zeitschrift darüber zu schreiben. Früher hat sie Pfeife geraucht. Sie ist eins von diesen großartigen alten Originalen. Der Besuch bei ihr war ziemlich traurig und schrecklich, weil – ach, davon erzähle ich Euch, wenn ich Euch das nächste Mal sehe. Bald, hoffe ich. Wenn Ihr nur jetzt hier wärt. Ihr könntet mein Publikum sein und mir dabei zuschauen, wie ich Euch beschütze. Mit einem Publikum käme ich mir viel tapferer und echter vor. So war das bei mir schon immer.
Als ich heute Morgen am Bahnhof ankam, um die Rückfahrt anzutreten, beschloss ich, mir etwas zu gönnen. Erzähl Beth bitte nichts davon. Sie würde nur den Kopf schütteln und mit der Zunge schnalzen. Es gab da ein richtig gutes Sonderangebot für Plätze in der ersten Klasse, und ich fahre einfach gern erster Klasse. Es ist wie ein heimliches Laster. Dafür zahle ich auch gern ein paar Pfund mehr als normalerweise. Eigentlich finde ich gar nicht, dass die Sitze so viel bequemer sind, aber größer sind sie auf jeden Fall, und nicht so hässlich; und meistens hat man einen von diesen schönen, großen Tischen mit der glatten Oberfläche für sich allein. Da kann man dann die Zeitung über den ganzen Tisch ausbreiten und gemütlich lesen oder dösen und sich vielleicht im Bistro einen Kaffee und einen Möhrenkuchen holen.
Meistens kriege ich dann ein bisschen die Krise, während ich auf dem Bahnsteig darauf warte, dass der Zug zum Stillstand kommt. Die Aussicht auf so viel Behaglichkeit scheint mir irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Und dann weht eine Brise der Entspannung und Erleichterung durch mein ganzes winziges Universum, wenn ich in den Zug steige und entdecke, dass doch alles in Ordnung ist. Das kleine Wunder passiert tatsächlich wieder. Manchmal ist das Wunder auch gar nicht so klein. Mir ist es schon mehr als einmal passiert, dass ich einen ganzen Waggon für mich hatte. Einen ganzen Waggon, Lance! Das ist schon ein großes Wunder. So etwas finde ich großartig. Und heute war es wieder so. Die erste Klasse des Zuges war praktisch leer und in den beiden Waggons, die am weitesten vom Bistro entfernt waren, war keine Menschenseele zu sehen. Glücklich setzte ich mich auf einen Fensterplatz in Fahrtrichtung an einem Tisch in der Mitte eines dieser leeren Waggons. Besser hätte es nicht sein können. Ich entfaltete die Zeitung, die ich mir zum Lesen mitgebracht hatte, und breitete sie auf der Tischplatte vor mir